32.

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Ich hatte es für das Beste gehalten, wenn ich den Ferkeln die Box überließ, die früher ihrer Mutter gehört hatte. Vielleicht konnten sie ja irgendwo noch ihren Geruch entdecken. Der kleinen Holzkiste waren sie in den zwei Wochen jedenfalls vollständig entwachsen, sie polterten mittlerweile auf allen Vieren herum, spielten miteinander und kamen bereits aufgeregt zur Tür gelaufen, wenn ich noch einen ganzen Gang entfernt den Futtereimer füllte. Molly hatte mir empfohlen, sie nach und nach von der Flasche zu entwöhnen und ihnen stattdessen weiches Obst und Getreide zu füttern. Sie liebten Obst, sie konnten gar nicht genug davon bekommen! Sonst hatte ich mich jeden Tag gefreut, zu ihnen zu kommen und mir aus der Hand fressen zu lassen, aber heute machte es kaum Spaß. Auch nicht, als Honey auf meinen Schoß sprang und sich dort zufrieden grunzend in mein Hemd einkringelte. Mein Kopf war immer noch bei dem Gespräch von eben und ich konnte meine Enttäuschung über Tim einfach nicht ausblenden. Seine lausige Entschuldigung, seine Geheimnistuerei und seine Blicke, als wäre in Wirklichkeit er das Opfer und ich der Böse! Warum konnte er mir nicht sagen, was ihn so launisch machte? Sicher hätte ich es irgendwie verkraften und vielleicht sogar helfen können, aber natürlich würden weder ich, noch Molly den armen armen Tim verstehen. Egal, ich wollte mir den Tag nicht weiter mit schlechter Laune und düsteren Gedanken vermiesen. Doch genauso hätte mir jemand sagen können, ich solle nicht ans Essen denken, wenn ich wirklich hungrig war. In meinem Kopf kreisten meine Probleme ohne Pause weiter und immer wieder kam ich zu Tim und seinem seltsamen Verhalten zurück. Das war doch zum Ausrasten!

Frustriert stand ich auf und entschuldigte mich bei Honey, die quiekend auf das Stroh klatschte und sich schnell in der hintersten Ecke der Box verkroch. Ich musste hier raus, sonst würde ich noch wahnsinnig werden!

Misty schnaubte glücklich, als ich sie aus dem Stall führte und mich hoch in ihren Sattel schwang. Schnell trieb ich sie mit Fersen und Zügeln an und ließ sie antraben, auf in den Wald. Das hatte mir schon die letzten Tage geholfen, aber nur, wenn ich die kleine Lichtung mit dem Teich mied. Dafür hatte ich eine Menge anderer Reitwege gefunden die mich entspannten und kurzzeitig alles vergessen ließen. Zum Beispiel einen Weg in der Nähe eines Bachlaufes, der allmählich zu einem schmalen Fluss anwuchs. Da gab es auch genug lange und gerade Strecken, auf denen ich Traben konnte. Meiner Stute gefiel die Umgebung sichtlich auch. Sie schnupperte immer ganz aufmerksam und knabberte an den niedrig hängenden Blättern und Ästen der Bäume, wenn ich nicht aufpasste.

Langsam verflüchtigten sich meine negativen Gedanken und ich atmete erleichtert die klare, nasse Luft ein. Endlich konnte ich wieder frei denken und dankbar tätschelte ich Mistys Flanke. Sie schnaubte leise und warf ihren Kopf kurz hin und her. Auch sie schien etwas zu bedrücken. "Keine Angst meine Gute, wir kriegen das schon hin!", redete ich ihr gut zu und kraulte ihr die Mähne.

Wir hatten das letzte Stück des Pfades erreicht, bevor wir abbiegen mussten und zurück zum Hof ritten: eine hügelige Freifläche, ungeschützt von Bäumen mit einem wunderschönen Ausblick. Hier verschwand der Fluss recht plötzlich in einem unterirdischen Höhlensturz im Boden, auf der rechten Seite stieg die Landschaft stark in die Höhe. Malerisch, nicht so schön ruhig wie der Teich, aber abgeschieden, rau und einsam, bis auf die Vögel deren Gesang-.

Ich stutzte. Jetzt wo ich daran dachte fiel mir auf, dass ich kein einziges Tier auf dem Weg hierher gesehen oder gehört hatte. Als versteckten sie sich alle. Ob Jäger unterwegs waren? Dann sollte ich besser schnell zurück, wahrscheinlich würde ich zwar nicht mit Wild verwechselt werden, aber die Stille war mir unheimlich. Das einzige Geräusch war das Rauschen vom Fluss. Unruhig trieb ich Misty weiter. Nicht mehr lange, bis ich die Kreuzung mit dem Weg zurück erreicht hatte.

"Stegi! Bleib stehen, bloß keinen Schritt weiter!", hörte ich plötzlich eine bekannte, aufgebrachte Stimme hinter mir. Ich brauchte mich nicht einmal herumzudrehen um zu wissen, dass es Tim war. Durch sein Rufen war Misty aber bereits so zusammengezuckt, dass Antraben kein Problem mehr darstellte. Der Kerl sollte mich verdammt nochmal in Ruhe lassen, ich wollte alleine sein und erst recht nicht mit ihm zusammen Ausreiten! Er fluchte, wurde lauter: "Halt an Stegi! Stopp! Du kannst da nicht weiter reiten!" Pah, und ob ich das konnte! Ich kannte den Weg selber! Ich war ihn mehrmals während seines Krankenhausaufenthalts entlang gegangen und geritten! Misty wurde immer nervöser, wieherte und setzte irgendwann aus unerklärlichen Gründen zum Galopp an. Das war der Moment, in dem ich plötzlich Angst bekam. Irgendwas war hier los und hatte mir die Kontrolle entrissen. Panisch krallte ich mich an Mistys Mähne fest, versuchte sie noch zu stoppen, doch sie gehorchte mir nicht mehr!

Hilfesuchend sah ich mich zu Tim um. Auch er begann mit Rexi zu galoppieren, schloss immer näher auf, ich sah wie er mir etwas zurief, doch es ging völlig im tosenden Wasserrauschen unter. Aber... das konnte doch unmöglich nur der Fluss sein! Dafür bebte die Luft zu sehr!

Ein kurzer Blick den Berg neben mir hoch beantwortete meine Frage. Felsbrocken, größer als mein oder Tims Pferd, donnerten den Hang hinunter, direkt auf den Weg vor uns! Und ich ritt genau darauf zu!

Verzweifelt kniff ich die Augen zusammen, wartete auf den Moment, in dem mich einer der gigantischen Steine erwischen, von Misty fegen und mich unter seinem Gewicht zerquetschen würde, doch stattdessen riss mir jemand die Zügel aus der Hand und zerrte stark an ihnen. Misty rutschte beinahe auf dem unsicheren Weg aus, als wir herumgerissen wurden, dann kamen wir endlich zum Halten. Hinter uns schien zeitgleich die Welt unterzugehen, so laut polterten die Felsen. Erst als der Radau sich langsam wieder beruhigte, traute ich mich vorsichtig zu blinzeln.

Alles sah verschwommen aus durch meine Tränen. Staub wirbelte auf, hustend wandte ich mich wieder ab von dem Desaster hinter uns und starrte Tim an, der heftig Luft in seine Lungen sog und selbst ebenfalls noch nicht glauben konnte, was eben beinahe passiert wäre. Rexi scheute, trat nervös auf der Stelle umher, stieg aber nicht, ebenso wenig wie Misty. Vermutlich waren auch sie zu verschreckt, um aus ihrer inneren Starre zu erwachen.

In meinem Blickfeld bildeten sich schwarze Pünktchen. Die Kraft verließ mich, widerstandslos drohte ich aus dem Sattel zu gleiten, doch da waren bereits Tims starke Arme, die mich auffingen, bevor ich auf dem Boden aufschlug. Instinktiv krallte ich mich in sein Shirt und seine Haut, vergrub mein Gesicht an seiner Brust und schluchzte. Von ihm kam keinerlei Regung, er hielt mich nur fest, sagte nichts, tat nichts. "Es tut mir Leid! Ich hätte auf dich hören sollen, du hattest recht, wenn du nicht gewesen wärst-", brachte ich mit einem Kloß im Hals hervor, dann brach ich noch immer zu entsetzt ab. Ich hätte tot sein können! Irgendwo begraben von einem Felsen weiter unten am Hang, niemand hätte mich je wiedergefunden!

Langsam kam Bewegung in den Körper meines Bruders zurück, er presste mich kurz und kräftig an sich, dann hievte er mich auf Rexis Rücken hinauf, setzte sich vor mich und führte beide Pferde im Schritt den Weg zurück, den wir gekommen waren.

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