6.

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Bevor ich mich versah, waren der Weg, die Spielwiesen und die zierlichen Alleebäume einem Trampelpfad, undurchdringlichem Dickicht und Nadelhölzern gewichen. Ein Wald, so krumm und unberührt wie aus einem Märchen. Doch seine Deckung war nur kurzzeitig ein Segen für mich. Nach wenigen hundert Metern hatte ich mich in der Finsternis verlaufen, glaubte mehrmals im Kreis gegangen zu sein und fand trotzdem den Weg nicht mehr. Nach etwa zwei Stunde allein in der Dunkelheit bekam ich Panik. Jeder Strauch und jede Talsenke sah gleich aus. Ich stolperte mehr über heruntergefallene Äste und Erdhügel, als dass ich noch lief, dazu kam auch, dass ich mit jedem Schritt erschöpfter und mit jeder Minute in dieser vollkommenen Stille müder wurde. Zweige verfingen sich in meinen Haaren und zogen an meiner Kleidung. Einmal verlor ich den Boden unter meinen Füßen und rollte einen Abhang hinunter, bevor ich mich ächzend wieder aufrappeln konnte und weiterhumpelte.

Irgendwann stolperte ich wieder, schlug hart auf einem Stück Wiesenboden auf und sah kurzzeitig Sternchen. Länger konnte ich nicht gehen, beim besten Willen nicht. Schon griff der Schlaf nach mir und die Erschöpfung siegte endlich über mich. Ich konnte mich lediglich noch ein wenig zusammenrollen, dann schlief ich bereits tief und fest.


Ich wachte am nächsten Morgen durch ein Stechen in meiner Hand auf. Blinzelnd öffnete ich die Augen und starrte direkt in ein anderes Paar keine zehn Zentimeter von meinen entfernt. Und noch gruseliger war, dass es keine menschlichen Augen waren. Ich schrie laut vor Schreck, schlug um mich und rappelte mich schnell auf. Überall flogen Vogelfedern herum und langsam nahm ich meine Umgebung deutlicher wahr. Ich war umgeben von mindestens vierzig Hühnern, die durch meine plötzlichen Bewegungen flatternd und flügelschlagend das Weite gesucht hatten. Nur der Hahn, der sich bei meinem Erwachen über mich gelehnt hatte, wirkte seltsam unbeeindruckt. Empört krähte er mich an und hüpfte dann davon, seinen Hennen nach. Eine von ihnen hatte mir mehrmals mit ihrem Schnabel in die Hand gezwickt, die Stelle pochte stark, aber zum Glück sah ich keine Wunde.

Noch immer mit viel zu schnellem Puls und aufgerissenen Augen schaute ich mich um. Über mir war strahlend blauer Himmel, ansonsten Weidefläche soweit das Auge reichte. Anscheinend hatte ich gestern nicht einmal mehr bemerkt, dass ich den Wald bereits verlassen hatte. Der thronte in einigen Metern Entfernung wie eine dunkelgrüne unpassierbare Wand in die Höhe, eindeutig strahlte er aus, dass er nicht gerne Besucher hatte. Umso einladender wirkte dafür die Lichtung hier.

Ein kurzer Blick nach hinten sagte mir, über was ich gestolpert war, kurz bevor die Müdigkeit mich überfallen hatte. Das Stück Wiese wurde von einem alten und schon leicht morschen Zaun umgrenzt, vermutlich wegen der Hühner. An einer Stelle war das oberste Holz so vom Zahn der Zeit zerfressen, dass nur noch ein kleiner Rest an seinem Platz hing. Das Brett darunter hielt sich noch tapfer, ungefähr auf Knöchelhöhe und war im hohen Gras sogar am Tag beinahe unsichtbar.

Aber wem gehörte das alles hier eigentlich? An eine freilaufende Hühnergruppe, die mitten in der Wildnis eine alte Koppel gefunden hatte, glaubte ich nämlich ehrlich gesagt nicht! Auch meinte ich einen Plastikring am Fuß des Hahnes gesehen zu haben, als er davon stolziert war. Also doch mit Besitzer, irgendwo hier in der Nähe! Angestrengt suchte ich die Umgebung mit meinen Blicken ab, was durch die wogenden Halme schwierig war, sie ließen meine Sicht verschwimmen und trieben mir nach und nach Tränen in die Augen.

Da! Da hatte ich etwas gesehen! Ein Holzdach, nein, nicht nur eins, zwei sogar, dicht beieinander! Vielleicht konnte ich dort nach dem Weg fragen oder eine Weile unterkommen, bis meine Eltern die Suche nach mir aufgeben würden. Einen Versuch war es wert! Mit neuer Energie und frischem Mut stand ich auf, ließ das mittlerweile wieder zur Ruhe gekommene Federvieh rasch hinter mir und fand nach einigen Minuten hartem Kampf gegen das Gesträuch auch eine niedergetretene Schneise, die in einen Schotterweg mündete und sich dann in ein paar wenigen Kurven zum Haupthaus verlief. Das andere lag versetzt dahinter, war sehr viel offener und erinnerte an einen Stall. Ob hier noch andere Tiere außer den Hühnern gehalten wurden?

Kurz stand ich noch unschlüssig vor der etwas windschiefen aber massiven Holztür. Was sollte ich den Bewohnern bitteschön über mich erzählen? Dass ich von Zuhause weggelaufen war und jetzt Obdach suchte? Dann war ihr nächster Weg vermutlich der zu meinen Eltern. Unter normalen Umständen wäre das ja auch die richtige, vernünftige Reaktion, aber meine Situation war nicht normal. Meine Familie würde mich um einen Kopf kürzen, wenn sie mich in die Finger bekamen! Doch das glaubte mir bestimmt niemand, der mich nicht schon über Jahre kannte...

Schließlich klopfte ich. Ich würde ihnen erzählen, dass ich schon sechzehn Jahre alt war, anstatt von vierzehn. Ich hatte die zehnte Klasse abgeschlossen und schaute mich jetzt nach einer Arbeit für mich um. Das sollte ich mir merken können. Ansonsten wollte ich so oft die Wahrheit sagen wie möglich, aber ohne mich zu gefährden. Drinnen hörte ich hastige Schritte und eine aufgeregte Stimme, die mit sich selbst zu reden schien, jedenfalls hörte ich niemanden antworten. Ein Riegel wurde zurückgeschoben und sofort stand ich einer kleinen, rundlichen Frau mit einem ersten Ansatz von grauen Haaren, die sie zu einem Dutt gebunden hatte, gegenüber. "Oh, hallo junger Mann! Kann ich dir helfen?"

Zeig mir was Leben ist! (#Stexpert)Where stories live. Discover now