15.

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Ich hatte mich nicht getäuscht. Sofort tauchte ich in eine Wolke von Tims Duft ein, das Schlafzeug roch eindeutig nach ihm. Mit einem angenehmen Gefühl der Geborgenheit vergrub ich meine Nase im Kopfkissen.

"So, dann erzähl mal! Wo hast du gelebt, bevor du unseren Hof gefunden hast?", fragte Tim nach einer Weile, er klang wieder interessierter. Brummend schaute ich auf, dorthin wo ich Tim vermutete. "In der Stadt auf der anderen Seite vom Wald. Die Familie, für die ich gearbeitet habe, hat mich bei sich wohnen lassen."

„Und was ist mit deiner eigenen Familie?", stocherte er weiter und brachte mich allmählich in leichte Verlegenheit. Ja, meine eigene Familie, was sollte ich darauf antworten? Sobald ich klar stellte, dass es dieselbe war, für die ich gearbeitet hatte, steckte ich in Erklärungsnot. Außerdem wäre es dann ein Leichtes zu erraten, wer ich wirklich war. Also würde ich lügen müssen, einmal ganz gewaltig in der Hoffnung, dass weitere Fragen dazu ausblieben: „Tot. Schon seit ich ganz jung war."

Tatsächlich herrschte danach lange Stille. „Tut mir leid für dich", flüsterte Tim schließlich. Mich überkam das schlechte Gewissen darüber, dem Jungen so einen Mist erzählt zu haben, aber es war zu meinem Besten und mit ein wenig Glück hatte er es bald wieder vergessen oder ausgeblendet. „Ist schon okay. Ich hab sie ja kaum gekannt."

Jetzt wollte ich aber auch ein bisschen über Tim lernen! Er hatte zwar schon ein wenig über sich erzählt und hatte bestimmt sein ganzes Leben hier verbracht, aber da gab es trotzdem ein paar Sachen, die ich ihn fragen wollte: „Bist du eigentlich zur Schule gegangen?"

"Nö. Molly sagt, Schule ist sinnlos und das wichtigste würde ich auch hier lernen", meinte Tim und streckte sich hörbar.

"Kannst du dann überhaupt schreiben oder lesen?"

"Na klar! Rechnen auch, das alles brauche ich hier jeden Tag. Dafür muss ich aber nicht zur Schule, ich habe es mir selbst beigebracht. Und du?"

„Ich bin zur Schule gegangen und hab die zehnte Klasse abgeschlossen", erinnerte ich mich an meinen Plan, was ich Molly ganz am Anfang erzählen wollte, doch was sie mich nie gefragt hatte. Mein Zimmernachbar gab ein beeindrucktes Geräusch von sich. „Also zehn Jahre lang! Respekt, so lange könnte ich nicht stillsitzen und lernen. Aber ist Schule denn nicht extrem teuer?"

Er hatte Recht. Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht! Die Schule an sich war zwar kostenlos, aber Schreibunterlagen und Bücher musste man natürlich selbst kaufen. Hätte ich dummerweise noch die Privatschule erwähnt, wäre ich jetzt in großen Schwierigkeiten gewesen. „Die Familie hatte genug Geld dafür, ähm, sie haben Wert auf die Grundausbildung gelegt", versuchte ich mich herauszureden. Und vor allem hatten sie Wert auf den Schein gelegt, das alles bei uns in bester Ordnung war. Jedenfalls bis vorgestern, bevor sie mich von der Schule abgemeldet hatten. „Ah, verstehe. Dann kannst du mir ja noch ein bisschen was beibringen!"

Ich musste durch Tims Kommentar kurz grinsen. Die Vorstellung, wie ich einen Achtzehnjährigen belehrte, war zu komisch.

"Stegi?"

"Ja?"

"Erzähl mir mehr über dich!"

"Was denn zum Beispiel?"

"An was erinnerst du dich von deinen Eltern?"

Ich schluckte. Dieses Thema schien Tim doch mehr zu beschäftigen, als ich erhofft hatte. "Eigentlich an so gut wie gar nichts", antwortete ich zögernd.

"Waren sie nett zu dir?"

"...Ja. Denke dich." Wünschte ich mir zumindest. Dass meine Eltern mich gern hatten.

"Das ist schön", meinte Tim zufrieden. Damit schien seine Neugier zu meiner Familie auch befriedigt, denn er hängte keine neuen Fragen mehr an. Also übernahm ich wieder das Steuer: "Und was ist mit dir? Du und Molly wohnt hier nur zu zweit, was ist mit deinem Vater?"

Tim gähnte leise in die Dunkelheit. "Hab ihn nicht kennengelernt. Er ist bei einem Unfall gestorben. Mutter hat mir mal ein wenig erzählt, aber er scheint nicht gerade der größte Kinderfreund gewesen zu sein."

"Oh... tut mir Leid für dich!" Das schlechte Gewissen kehrte zurück. Tim hatte wirklich einen Elternteil verloren, vielleicht interessierte er sich deswegen so für meine. Und ich verbog die Wahrheit am laufenden Band und erntete dafür sein Mitleid. Aber Tim wirkte auch nicht übermäßig traurig über den Verlust. "Nicht so schlimm, ich hab ja noch Molly!"

Dann war wieder lange Zeit Schweigen zwischen uns.

Gerade als ich ihm eine gute Nacht wünschen wollte, räusperte der Junge sich doch nochmal: "Du Stegi, auf... auf welcher Flussseite schwimmst du eigentlich?"

Ich runzelte meine Stirn. Hä? Flussseite, welcher Fluss denn? „Was meinst du?", fragte ich nach, als er sich von alleine nicht weiter erklärte.

Jetzt druckste auch Tim herum. „N-naja, also, welches Ufer meine ich. Wie du gepolt-, äh, ja, wie bist du gepolt." Gepolt? Was hieß das denn jetzt und was hatte das mit Flüssen oder Ufern zutun? Zu schüchtern um noch einmal nachzufragen, brummte ich leise, als müsste ich überlegen, aber scheinbar war die Frage meines Gesprächspartners nicht für langes Nachdenken bestimmt gewesen. Seine nervösen Bewegungen konnte ich sogar durch die Dunkelheit wahrnehmen.

„Ist es dir peinlich? Ich meine, du musst mir nicht antworten wenn du nicht willst, ich dachte nur, wir klären das besser jetzt ab. Bevor sich irgendjemand... naja, falsche Hoffnungen macht oder so...", schob Tim dann nochmal nach, als immer noch keine eindeutige Antwort von mir kam. Ich ärgerte mich, was wollte er bloß von mir? Es musste total offensichtlich sein. Und wichtig auch noch! „Tut mir leid. Ich verstehe dich nicht."

Ich hörte Tim tief ein- und ausatmen: „Okay... Ich wollte nur wissen, ob du auf Mädchen oder auf Jungs stehst. K-kennst du diese Umschreibungen echt nicht? Es klingt so blöd, wenn man diese Frage direkt stellt."

Sofort wollte ich ihm antworten, dass ich natürlich auf Mädchen stand. Das war doch wohl normal, also traf das auch auf mich zu, obwohl ich noch nie ein Mädchen geküsst hatte, von einer Freundin ganz zu schweigen. Aber dann bremste ich mich. Wieso sollte sich denn jemand falsche Hoffnungen machen? Mit einer unangenehmen Vorahnung fragte ich: „Auf was stehst du?"

„Auf... Jungs." Tim klang, als bereute er bereits, überhaupt mit diesem Thema angefangen zu haben. „War ganz seltsam, als ich das bemerkt habe. Aber hier auf dem Hof war es völlig okay bisher. Und du, Stegi?"

Ich schwieg erschrocken. Es war, wie ich befürchtet hatte. Tim war schwul und wenn ich das richtig verstanden hatte, war seine Hoffnung gewesen, dass ich es auch wäre. Warum sonst hätte er gefragt? Und was würde passieren, wenn ich nein sagte? Akzeptierte er das, oder...? Oder würde er sich trotzdem an mir vergehen, wenn er das wollte? Das taten Schwule doch, n-nicht wahr? Ich wusste es nicht wirklich, aber das war das, was ich immer gehört hatte. Dass Schwule abartig seien, sich an Kindern vergriffen und nicht wussten wohin mit ihren kranken Trieben. Stimmte das, würde Tim etwas versuchen, wenn ich nicht aufpasste? Mich schüttelte es vor Angst. Dabei hatte er so nett ausgesehen...

„Stegi? Was ist? ...du magst sicher Mädchen, oder? Dann ist das okay für mich. Ich wollte dich nicht verunsichern oder so." Tim zog hörbar die Nase hoch. „Sag doch bitte irgendwas! ...hasst du mich jetzt deswegen? ...Gute Nacht Stegi..." Seine Matratze knarzte leise auf dem Holzboden, danach war endgültig Stille zwischen uns. Ich hatte mich einfach nicht zu einer Antwort überwinden können. Nicht einmal zu einer Lüge, um den jungen Mann zu beschwichtigen.

Der Schlaf ließ diese Nacht lange auf sich warten.

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