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"Es ist alles meine Schuld!"

Wir waren wieder in unserem Zimmer, ich lag auf dem Bett, Tim saß im Schneidersitz vor mir und starrte mit leeren Augen vor sich hin. Als er dann diesen Satz sagte, richtete ich mich mühsam wieder in eine aufrechte Position. Die beschädigte Hand ruhte dabei in einen Verband gewickelt auf meinem Schoß.

"Das stimmt nicht", versuchte ich ihn aufzumuntern, aber Tim schüttelte den Kopf. "Stimmt es wohl. Ich hatte total verdrängt, dass ich Misty noch gar nicht an Autos oder überhaupt an Straßenlärm gewöhnt hatte. Ich bin so ein Trottel! Wenn ich daran denke, was dir hätte passieren können, dann...!" Er wurde leise und presste sich die Handflächen gegen sein Gesicht. Einzelne gelöste Haarsträhnen rutschten ihm hinter den Ohren hervor und bedeckten seine Wangen wie dünne Streifen eines Vorhangs. Wäre er gerade nicht so traurig und würde sich selbst Vorwürfe machen, hätte er sogar recht knuffig ausgesehen. Als müsse man sich sofort auf ihn schmeißen und durchkitzeln, bis er auf bessere Gedanken kam. Aber ich bezweifelte, das Kitzeln jetzt die richtige Lösung war.

Also strich ich ihm über die Schulter, wie er es immer bei mir getan hatte. "Du konntest doch nicht wissen, dass ausgerechnet heute ein Auto zu uns kommt!"

"Konnte ich doch", schniefte Tim, "der Kerl hatte mir gestern Mittag sogar noch per E-Mail Bescheid gegeben. Ich hatte es einfach vergessen! Eine Woche in den Misthaufen solltet ihr mich dafür stecken!"

"Und was hätten wir davon? Dann könnte sich jetzt gar niemand mehr um die Tiere kümmern! Kopf hoch, Fehler passieren jedem mal! Ich bin noch hier, ich musste nicht mal ins Krankenhaus und in ein paar Tagen bin ich wieder vollkommen fit. Komm schon, so niedergeschlagen kenne ich meinen großen Bruder doch gar nicht!"

Er schnaubte und kurzzeitig konnte ich ein Grinsen auf seinen Lippen ausfindig machen. Na also. "Großer Bruder?", fragte er nochmal nach, „Haben wir die Kumpel-Phase etwa einfach übersprungen?" Ich sah ihn zwischen seinen Fingern hervorblinzeln, zuckte mit den Schultern und stimmte ebenfalls mit einem Lächeln ein. "Du bist blöd", warf ich ihm gespielt beleidigt entgegen und schubste ihn ein Stück von mir weg, nur damit er noch näher an das Bett heranrutschte als zuvor.

"Wer war das mit dem Pickup denn eigentlich?", fragte ich neugierig. Dankbar nahm Tim den Faden wieder auf und begann zu erklären: "Naja, wir leben hier quasi im Nirgendwo, aber wir brauchen ja trotzdem Strom. So genial das hier auch alles gebaut ist, die Wasserpumpen, die Lampen im Haus und im Stall, die Computer und sämtliche Maschinen, das können wir nicht alles über Batterien laufen lassen. Dafür haben wir einen Keller mit einem uralten Generator. Der Typ mit dem Pickup bringt uns alle Jahre mal neues Benzin für das Wunderteil mit. Fast umsonst, zugegeben, ein paar Hühnereier, zwei Flaschen Milch und nen warmen Händedruck bekommt er trotzdem von uns. Er ist ein guter Bekannter von Mutter. Und mir hat er, als ich zehn war, mal ein Zwergkaninchen mitgebracht, dass er aus einer Falle gerettet hatte. Achja, schöne alte Zeiten!"

Tim sah wieder fröhlicher aus, der Schock von vorhin war vergessen. "Ruh dich noch aus, ich kümmer mich schnell um Misty und bring sie zurück in ihre Box", verabschiedete er sich, küsste mich vorsichtig auf die Stirn und verließ dann rascher als nötig das Zimmer. Obwohl er bereits verschwunden war, schämte ich mich, dass ich wegen seiner Berührung rot anlief wie eine Tomate. Hatte das jetzt was zu bedeuten? Oder reagierte ich über und er hatte es nur freundschaftlich gemeint? Wie unter Brüdern halt. Ob ich ihn danach fragen sollte, wenn er wiederkam, nur zur Sicherheit? Ja, das wäre wahrscheinlich das beste. Einfach schon um Missverständnisse zu vermeiden.

Aber etwas schien ihn aufzuhalten, zum Abendessen war er nicht da und solange ich unten auf ihn wartete und Molly beim Aufräumen half, tauchte er auch nicht auf. Hoffentlich war ihm nichts zugestoßen!

Dann, irgendwann in der Nacht, endlich das erlösende Quietschen der Tür unten. Ich lag zu dieser Zeit bereits im Bett und hatte vor mich hingedöst, schreckte aber sofort hoch und lauschte den Stimmen unten.

"Du hättest doch nicht warten brauchen, Mutter. Denk doch an deine Gesundheit!"

"Ich hätte eh nicht schlafen können, bis ich weiß dass du unverletzt wieder hier bist. Stegi hat sich Sorgen gemacht, das hab ich gespürt."

"Ich weiß. Ich war noch bei den Schweinen und habe die Zeit vergessen. Vielleicht wird Cora morgen werfen, ich hab die ganzen kleinen Füße treten gespürt!"

"Das sind gute Neuigkeiten! Aber du solltest dich besser beeilen um ins Bett zu kommen. Wenn du auch noch ausfällst, haben wir niemanden mehr der sich um alles kümmern kann."

"Gute Nacht Mutter!"

"Gute Nacht Tim!"

Die Treppenstufen knarzten, dann ging drüben im Bad die Dusche an. Geduldig wartete ich ab, bis der Junge fertig war, sich die Zähne geputzt hatte und unser Zimmer betrat, auf Zehenspitzen, als hätte er Angst mich sonst zu wecken. Ich wiederum wollte ihn nicht erschrecken, sondern erst warten, bis er im Bett lag und sich nicht versehentlich im Dunkeln verletzen konnte. Trotzdem kam ich mir komisch vor, seine schemenhaften Umrisse zu beobachten, wie er nur mit einer Boxershorts bekleidet und einem Handtuch um den Oberkörper geschlungen an mir vorbei schlich.

Ich hörte ihn leise gähnen, ehe er seine Lampe einschaltete, sie so schnell und so weit wie nur möglich dimmte und sich im schwachen Licht ein neues Tshirt aus seinem Kleiderschrank suchte. Mit dem Rücken zu mir strubbelte er sich durch die langen, nassen Haare, dann ließ er das Handtuch zu Boden sinken.

Ich zuckte so stark zusammen, dass das Bett laut knarzte und Tim herumwirbeln ließ. Mit weit aufgerissenen Augen starrten wir uns gegenseitig an, zwei ängstliche Mäuse im Angesicht der Schlange. Ich öffnete verstört den Mund, aber kein Laut kam über meine Lippen. Es war schrecklich.

Tims Schultern sanken ertappt nach unten: "Du hast es gesehen nicht wahr?" Mein Blick sprach aber bereits Bände genug. Über Tims gesamten Rücken, vom Hals an bis hinunter zur Leiste, zog sich wie von einer riesigen Klaue gezogen eine fingerbreite, langgestreckte und leicht verästelte Narbe!

Zeig mir was Leben ist! (#Stexpert)Where stories live. Discover now