35.

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Es war noch nicht einmal dämmrig draußen, als ich den prallvollen Korb mit den Milchflaschen ins Haus trug und neben der Tür abstellte. Molly stand am Herd und bereitete scheinbar gerade das Abendessen zu, drehte sich aber erstaunt zu mir um, als sie die Tür hörte, legte den Kochlöffel beiseite und kam näher.

"Oh Tim, Stegi hat mir alles erzählt, was heute passiert ist! Du bist wirklich ein Held und darauf kannst du stolz sein!", lächelte sie, während sie mich umarmte, lange und innig. Ich legte ebenfalls einen Arm um sie, drückte sie an mich und fühlte mich jetzt wirklich wieder Zuhause. "Ist er noch oben?", fragte ich fröhlich, "Hat er sich ausgeruht?"

Molly nickte. Dann würde ich ihn auch nochmal besuchen und Bescheid sagen, dass es bald Essen gab.

Die Treppenstufen knarzten schon wieder bei jedem Schritt so schlimm. Jedes Jahr verzog sich das Holz aufs neue, es war eine dauerhafte Baustelle. Gedanklich notierte ich mir, die Trittbretter bald gegen einen frischen Satz auszutauschen, und öffnete möglichst leise die Tür zu Stegis und meinem gemeinsamen Zimmer.

Der Junge lag klein zusammengerollt in meinem ehemaligen Bett, hatte seinen Kopf mit dem Gesicht zur Wand im Kissen vergraben und schlief tief und fest. Gleichmäßig und ruhig hob und senkte sich sein Brustkorb und ich traute mich kaum, ihn anzusehen in dem Glauben, mein bloßer Blick könnte ihn bereits aufwecken. Aber nichts dergleichen geschah und irgendwann konnte ich nicht mehr anders, als mich im Schneidersitz vor ihn zu setzen und ihm beim Schlafen zuzusehen.

Ich konnte es nicht leugnen, ich mochte Stegi. Sehr sogar. Dabei hatte ich alles mögliche getan, um mir solche Gedanken an ihn strikt zu verbieten. Er war straight, sah mich als guten Freund und sogar als großen Bruder an und war noch viel zu jung für jeden intimen Kontakt. Außerdem hatte ich sein Vertrauen bereits einmal schlimm gebrochen. Sollte mir das ein zweites Mal passieren, würde Stegi mit Sicherheit seine Sachen packen und gehen. Mein Leben würde dann wieder furchtbar einsam werden, das Arbeitspensum härter und Mollys Zustand schlechter. So egoistisch das auch klang, aber Stegi musste auf jeden Fall bei uns bleiben. Denn dass er sonst etwas anderes, besseres fand, war außer Frage.

Vom ersten Tag, als er zu uns gekommen war bis heute hatte er etwas besonderes an sich, was man Aura nannte, glaube ich. Stegis Aura war die eines Prinzen. Die Art wie er sich bewegte, sprach und benahm war völlig anders als meine, Mollys oder die ihrer Freunde. Auf den ersten Blick passte sie nicht hierher, sondern in eine Großstadt oder eine Villa. Nur wenn man den Kleinen besser kennenlernte, sah man den Wunsch nach einem anderen Leben darunter. Aber Chancen hätte er bestimmt überall gehabt mit seiner Ausstrahlung.

Auf der einen Seite war ich froh, dass er hier immer tüchtig mitarbeitete. Auf der anderen tat er mir wieder leid dafür. Man hatte ihm lange Zeit anmerken können, wie ihn die ungewohnte, viele Arbeit Tag für Tag beinahe erschlug. Am Abend war er nach dem Essen meist sofort eingeschlafen und frühs nur nach mehreren Weckversuchen aufgestanden. Mittlerweile machte er sich echt gut, aber er hatte so eine Last nicht verdient. Ich wusste seit meinem fünften Geburtstag genau wie es war, ständig Arbeit und kaum Freizeit zu haben. Alles hier geschah aus Notwendigkeit heraus, sogar die Ausritte, damit die Pferde nicht vor Langeweile krank wurden. Und jetzt hatte die viele Arbeit ihr zweites viel zu junges Opfer gefunden. Stegi war kaum noch vom Hof wegzudenken und diesem Fakt zuliebe würde ich mich ab jetzt noch strenger zurückhalten mit jeder bedenklichen Bemerkung und jedem Annäherungsversuch. Stark bleiben, Tim! Wie früher...

Eher nebenbei erwischte ich mich, wie ich Stegis ruhenden Hinterkopf keine Sekunde aus den Augen ließ. Seine blonden Haare kräuselten sich verspielt über seinem Ohr, fielen ihm in Stirn und Nacken und für einen Moment kam mir der seltsame Vergleich mit der Sonne in den Sinn. Beide leuchteten hell, verstrahlten Freude und zauberten mir ein Lächeln auf die Lippen ...Ohje, klang das kitschig! Und meine Gedanken drifteten schon wieder in die falsche Richtung ab. Verdammt...!

Ich widerstand der Versuchung, ihm über die Haare zu streichen. Es musste sich schön anfühlen, eine dieser superweichen Strähnen um meinen Finger wickeln zu können. Dabei Stegis Haut zu berühren, seine Wange oder seinen Hals vielleicht. Ob er dort kitzelig war? Ich stellte mir sein niedliches Grinsen vor, während er lachend zusammenzuckte und seufzte laut. „Fuck Tim... Mist Mist Mist." In einem Anflug von Verzweiflung vergrub ich mein Gesicht in meinen Händen. Warum mussten mir diese Gedanken jetzt kommen, wenn Stegi in dieser verletzlichen Position vor mir lag? Es war nicht so, dass ich mich urplötzlich an ihm vergreifen würde, das hatte ganz andere Ursachen gehabt. Aber es füllte mich dennoch mit tiefer Scham. Mein einziger Trost dabei war, dass der Kleine schlief und nichts von meiner Dummheit mitbekam.

Ich erinnerte mich, dass es ja gleich Abendessen gab und Stegi noch nicht wie sonst um diese Zeit die Hühner eingesperrt hatte. Das würde ich noch schnell erledigen, nahm ich mir vor und stand auf. Aber Stegi sollte ich besser jetzt schon aufwecken.

Meine Hand lag beinahe schon auf seiner Schulter, als mich wieder ein beschämendes Verlangen überkam. Ich wollte ihn so gerne noch einmal küssen. Von mir aus nur auf die Schläfe, das reichte mir vollkommen. War das okay...? Ich meine, Stegi würde es ja nicht mitbekommen wenn ich es tat. Solange ich mich beeilte. Mit glühend heißen Wangen beugte ich mich zu ihm herunter, hielt inne und verpasste mir selbst eine Ohrfeige. Scheiße ey, egal ob Stegi es bemerkte oder nicht, das war nicht richtig! Meinen Impulsen so einfach nachzugeben verschlimmerte die Situation nur immer weiter! Ich musste lernen, mich verdammt nochmal zu kontrollieren! „Vollidiot!", knurrte ich durch meine Hände, die ich vor mein Gesicht geschlagen hatte, atmete mehrmals tief ein und aus und versuchte mich zu beruhigen. Warum war das bloß so furchtbar kompliziert für mich...?

Nach einer Minute fühlte ich mich wieder entspannt genug, ließ meine Arme sinken und flötete im fröhlichsten Ton: „Hey Stegi, aufwachen! Es gibt gleich Abendbrot!" Der Junge reagierte nach kurzer Zeit und ich nahm das als Zeichen, mich aus dem Staub zu machen, bevor ich noch eine Dummheit beging.


POV Stegi

Ich hatte nicht geschlafen.

Zeig mir was Leben ist! (#Stexpert)Where stories live. Discover now