22.

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Ein Haus inmitten einer Kleinstadt. Ein Möbelwagen steht vor der Tür, die sich soeben öffnet. Ein Mann und eine Frau streiten miteinander.

"Du hast mir gar nichts mehr zu sagen! Du hast mich doch schließlich betrogen!", knurrt der Mann bösartig, umfasst die Griffe seiner beiden Koffer fester und flüchtet beinahe in das Auto, während seine Frau ihm nachruft, dass er zurückkommen soll und es nicht ihre Schuld war. Und dann stolpert ein kleiner, dicklicher Junge hinter ihren Beinen hervor. "Mama? Wohin geht Papa?", will er wissen, doch sie beachtet ihn nicht. Der Kleine lässt nicht locker: "Können wir nicht mit Papa mitkommen?"

"Er ist nicht dein Papa du dummes Kind! Geh wieder rein und halt deinen Mund!", faucht sie plötzlich, so laut, dass der Junge mit dem braunen Haaransatz zu weinen anfängt. Als er nicht wieder aufhören möchte, packt die Mutter ihn am Kragen, schleift ihn mit sich nach drinnen, verriegelt alle Fenster und lässt dann ihre gesamte Wut an dem wehrlosen Kind aus.


"Tim?"

Ich traue mich beinahe nicht zu atmen.

"Timmi-Schatzi? Es tut mir leid was ich getan habe. Das war nicht richtig von mir. Kommst du zu Mama?"

Ich kann mich immer noch kaum bewegen. Mein Rücken tut dafür zu sehr weh.

"Wollen wir spazieren gehen? Komm, wir gehen in den Wald Pilze sammeln! Vielleicht sehen wir auch ein paar Tiere", lockt sie mich weiter. In den Wald gehe ich gerne! Ich habe einmal einen Pilz gefunden, der soooooo groß war wie ich selber! Also lasse ich mich, wenn auch unter Schmerzen, in meine Jacke kleiden und laufe mit Mama an der Hand los.

Aber wie gründlich wir auch suchen, unter der Schneedecke finden wir einfach keine Pilze. Vielleicht haben sie sich ja vor der Kälte versteckt. Immer weiter suche ich, bis ich bemerke, dass ich Mama nicht mehr sehen kann. Will sie auch verstecken mit mir spielen? Eine Weile laufe ich noch herum und rufe nach ihr, bis ich zu müde bin und mir zu kalt wird.

"Mama, bitte komm raus! Du hast gewonnen, aber ich friere!", jammere ich und schaue mich erwartungsvoll um. Aber keine Mama springt hinter einem Baum hervor. Ein Wort kommt mir in den Sinn, dass sie gestern die ganze Zeit geschrien hatte, während sie mir wehtat. Bastard. Ich weiß nicht, was das ist oder warum es mir jetzt einfällt. Einfach nur das eine Wort.

Es fängt an zu schneien, riesige Flocken lösen sich vom Himmel und schweben durch die kahlen Bäume. Ich habe die Suche nach Mama aufgegeben. Ich kann sie nicht finden. Zitternd setze ich mich auf den Boden und beginne zu weinen in der Hoffnung, dass sie mich so hören wird. Und wirklich, irgendwann höre ich Schritte. "Hallo mein Kleiner, warum weinst du denn?"

Es ist eine Frau, aber es ist nicht Mama. Lange rötliche Haare fallen ihr ins Gesicht, sie trägt einen Korb mit einigen Flaschen Milch mit sich herum und sieht freundlich aus.

"Ich kann meine Mama nicht finden. Wir wollten Pilze sammeln, haben aber keine gefunden und dann habe ich Mama nicht mehr gesehen!"

"Pilze?", fragt sie verwirrt, bis sie plötzlich ganz ganz traurig aussieht. "Du kannst ruhig erst einmal mit mir kommen, dir ist doch sicherlich kalt mein Kleiner! Wie heißt du denn?"

Glücklich stehe ich wieder auf und folge ihr.

"Ich heiße Tim und du?"

"Mein Name ist Molly. Und ich wohne hier in der Nähe auf einem kleinen Bauernhof! Magst du Kühe?"

Mit funkelnden Augen nicke ich und merke gar nicht mehr, dass mir eben noch so kalt war...


"Natürlich habe ich Molly erst nicht geglaubt als sie mir einen Tag später gesagt hat, dass meine Mutter mich nicht mehr haben wollte. Ich war erst drei Jahre alt und konnte es nicht verstehen. Aber als Molly dann noch die Verletzung gesehen hatte und ich wissen wollte, was ein Bastard ist, hat sie sich zusammengereimt, was mir widerfahren sein musste. Tagelang habe ich mich geweigert abends zu schlafen, zu den Essenszeiten etwas zu mir zu nehmen und mit ihr in den Stall zu den Tieren zu gehen. Sie hatte selbst nie Kinder, ihr Mann war Monate zuvor bei einem Reitunfall ums Leben gekommen und sie kämpfte darum, den Hof und alles, was damals dazugehörte, nicht zu verlieren. Und plötzlich musste sie sich noch um ein bockiges, kleines Kind kümmern, das sie aus Mitleid im Wald aufgegabelt hatte. Weil sie es nicht besser wusste, war sie stets schonungslos ehrlich zu mir, aber auch sehr geduldig und liebevoll. Irgendwann hatte sie mir einen neugeborenen Hasen geschenkt und mich so für den Stall und die anderen Tiere begeistert. Dann kam eines Tages Emma dazu, dann noch Cora und ehe wir uns versahen hatten wir so viel Arbeit, dass Molly sie beim besten Willen nicht mehr alleine schaffen konnte. Und dann habe ich angefangen, ihr bei allem erdenklichen zu helfen, obwohl ich erst vier Jahre alt war. Ich habe getan was ich konnte, um ihr dafür zu danken, dass sie mich an dem einen Wintertag nicht hatte sterben lassen. Sie ist für mich, wenn auch nicht biologisch, meine wahre Mutter. Was meinen echten Vater angeht, er hatte wohl nie vorgehabt, mit einer verheirateten Frau ein Kind zu zeugen. Ich habe sogar eine Abtreibung überlebt und ihr Ehemann, mein Stiefvater, hat sich daraufhin von meiner echten Mutter getrennt. Deshalb bin ich ein Bastard, ich sollte nie geboren werden und trotzdem stehe ich heute hier, führe ein erfülltes Leben, habe eine kleine, nette Familie und bin trotzdem nicht stolz. Ich habe allein durch meine Existenz drei Menschenleben ruiniert, selbst wenn es nicht die besten Personen waren, und bin dafür für mein ganzes Leben gekennzeichnet worden. Jeden Tag werde ich daran erneut erinnert. Anstatt zu verschwinden, wuchs die Narbe mit, verblasste nicht, verheilte nicht. Ich glaube, irgendetwas will, dass ich sie behalte. Deswegen wollte ich nie darüber mit jemand anderem sprechen, und doch habe ich es nun getan. Schlaf jetzt Stegi, wir haben morgen viel vor uns!"

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