9.

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Mir klappte der Mund auf und bevor ich mich zügeln konnte, platzte auch schon die erste unangebrachte Frage aus mir heraus: "Wie alt bist du bitte!?"

Tim wirkte jedoch nicht im geringsten pikiert. Vielmehr strich er sich belustigt über einen imaginären Bart am Kinn und tat, als würde er überlegen. "Ich bin achtzehn und werd bald neunzehn. Wieso, dachtest du ich müsste 'n alter Knacker sein oder was?"

Seine Gegenfrage machte mir erst so richtig klar, wie ich hier mit dem Sohn der Chefin des Hofes sprach. Zwar schien er Spaß zu verstehen, so wie er mich gerade an der Nase herumgeführt hatte, trotzdem war er um einiges älter als ich. Und ich verhielt mich so respektlos! Mit hochrotem Kopf starrte ich auf meine Schuhspitzen. "Tut mir leid, ich hätte sowas nicht fragen dürfen. Denk jetzt bitte nicht schlecht von mir, es wird nicht wieder vorkommen!"

Mutlos kniff ich die Augen zusammen. Er würde mich jede Sekunde wegschicken, nicht wahr? Aber es passierte nichts dergleichen. Als ich vorsichtig blinzelte sah ich, dass Tim um seinen Schreibtisch herumgekommen war und mich von allen Seiten musterte. In seinem Blick lag dabei etwas wie... Mitleid? "Wie lange warst du denn alleine da draußen unterwegs? Du musst doch hungrig sein, oder?"

Vorsichtig nickte ich: "Ich bin seit gestern Abend unterwegs. Davor habe ich bei einer wohlhabenden Familie gearbeitet und mich um ihr Haus gekümmert. Aber die waren nicht zufrieden mit mir, also haben sie mich rausgeworfen." Das war eine ziemlich verbogene Wahrheit, aber es passte zum Rest meiner bisherigen Erzählungen. Und bei dieser Fassung wollte ich ab jetzt auch möglichst bleiben, bevor sie völlig aus den Fugen geriet.

Tim vor mir rieb sich die Hände und lächelte mich an, mit der gleichen Intensität und Ehrlichkeit, wie auch Molly es vorhin getan hatte. Der Apfel fiel scheinbar nicht weit vom Stamm. "Also na dann, Mittagspause! Bevor du uns von den Knochen fällst, kann Mutter dir bestimmt etwas leckeres zaubern! Und du brauchst nicht bescheiden oder zögerlich zu sein, wir teilen gerne."

Während er jetzt voraus schlenderte, sah ich Tim mit völlig neuen Augen. Selbst wenn er nicht muskelbepackt oder großartig vom Leben gezeichnet war, er passte hierher. Er wirkte wie kein Fremdkörper, im Gegenteil, eher als hätte er sein gesamtes Leben hier verbracht, umgeben von Tieren, Heu und sämtlicher Arbeit, die hier anfiel. Und vermutlich stimmte das so sogar. Aber... wenn er erst knapp neunzehn Jahre alt war, musste ich mich auch gründlich in Mollys Alter verschätzt haben. So gutmütig, rundlich und grauhaarig wie sie war, hätte ich sie bereits für eine Großmutter gehalten, vielleicht sechzig oder sogar fünfundsechzig, die ihren Enkeln und nicht ihrem Sohn Plätzchen backte. Aber das konnte einfach nicht stimmen. Vielleicht sah man ihr die harte Arbeit einfach stärker an als Tim, das musste es wohl sein.

Ich konzentrierte mich wieder auf den Weg und hielt gerade rechtzeitig an, um nicht in den jungen Mann hineinzurennen, der stehengeblieben war und etwas erzählte, dem ich durch meine eigenen Gedanken nicht gefolgt war.

"Was meinst du, Stegi?", fragte er in diesem Moment, drehte sich zu mir und schaute verwundert auf mich herunter, wie ich keine zehn Zentimeter von ihm entfernt stand, verwundert zu ihm aufblickte und selber noch nicht ganz genau wusste, was Sache war. Der Größenunterschied zwischen uns war gewaltig, fiel mir in diesem Moment bewusst auf, ich reichte ihm noch nicht einmal bis zu den Schultern hinauf.

Eine seltsame Stille breitete sich aus, ich hörte Tim hart schlucken und entfernte mich augenblicklich ein paar Schritte von ihm. "Tschuldigung, was hattest du gefragt?", versuchte ich die Situation von eben irgendwie wieder rauszureißen. Das erste Mal wirkte der Junge unsicher, seine Augen flackerten kurz auf, dann lächelte er aber wieder. "Ich meinte nur, dass ich dir am besten auch das Reiten beibringen sollte. Wir haben hier viele Pferde und die brauchen regelmäßig ihren Auslauf und Abwechslung von der Koppel und dem Stall."

"Ja, klar! Klingt gut!", bestätigte ich schnell und schaute mich schonmal um, auf welchen ich dann wohl reiten konnte. Aber alle die ich in den Boxen sah, waren für mich zu groß und sicher auch zu wild, als dass ich gefahrlos auch nur eine Minute auf ihren Rücken aushalten würde. Tim legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter. "Erstmal gibts Essen, danach können wir dir immer noch ein Tierchen aussuchen. Keine Angst, keins wird beißen oder groß rumbocken, soweit hab ich schon alle gezähmt!"

Ein wenig erleichterter ließ ich mich schließlich von Tim mit zum Haupthaus ziehen, in dem Molly sogar schon mit dem Essen auf uns wartete. Es gab eine deftige Suppe mit allen Zutaten aus eigenem Anbau. Es war die beste Suppe, die ich je gegessen hatte!

Zeig mir was Leben ist! (#Stexpert)Where stories live. Discover now