30.

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Der Rettungsdienst schaffte es eine halbe Stunde nach dem Anruf tatsächlich, Mollys Wegbeschreibung zu folgen und mit einem Krankenwagen bis knapp vor den Stall vorzufahren. Bis dahin hatten wir Tim einen notdürftigen Verband um den Kopf geschlungen und ihm ordentliche neue Kleidung mitgebracht. Zwischendurch war er auch kurzzeitig zu Bewusstsein gekommen, aber er war sehr verwirrt und müde gewesen und schon nach wenigen Minuten wieder weggedämmert. Nun hieß es warten, bis die Rettungskräfte ihn mit einer Trage in den Krankenwagen verlagert hatten.

Während sie sich mit Molly unterhielten und sie nach Tims wichtigsten Eckdaten fragten, keimte in mir eine neue Sorge auf. Der Notruf und Tims Behandlung würden doch eine Menge Geld kosten, nicht wahr? Ich konnte nur raten wieviel genau, aber bestimmt war es mehr, als Molly bedenkenlos weggeben konnte. Es war ja nicht einmal genug da gewesen, um ein wenig Medizin für Cora zu entbehren. Ich zweifelte nicht daran, dass Molly die Rechnung für ihren Ziehsohn bezahlen würde, aber was sollte dann aus dem Hof werden? Wenn sie den nicht verkaufen wollte, brauchte sie sicher Unterstützung; Die ich ihr zum Glück geben konnte!

Eigentlich hatte ich vorgehabt, Mutters Portemonnaie irgendwo im Wald zu vergraben, sollte Molly darauf bestehen, dass ich es zurückbrachte. Sie schien es allerdings verdrängt zu haben und so hatte ich es einfach hier im Stall hinter den Haferfässern versteckt für einen Notfall wie diesen.

Als ich mit der kleinen roten Tasche unterm Arm aus dem Stall rannte, waren die beiden Männer an Mollys Seite gerade dabei, sich zu verabschieden. Hastig wedelte ich mit den Armen und hielt sie so zurück. „Wartet! Hier, bitte nehmen Sie das und machen Sie Tim damit wieder gesund!"

Molly sagte trotz ihrer sichtlichen Überraschung nichts, als ich alle Geldscheine hervorkramte und den Rettungskräften entgegenstreckte. "Das können wir nicht annehmen", verteidigten die zwei sich zuerst, doch ihre Augen waren starr auf die bunten Banknoten geheftet. In dem Moment war es mir egal, ob es vielleicht sogar zu viel war und sie das restliche Geld für sich behielten oder nicht. Solange sie nur dafür sorgten, dass Tim bald wiederkam. Er war trotz seiner Fehler die treibende Kraft auf dem Hof, ohne ihn würde hier auf lange Zeit das Chaos ausbrechen. „Er ist nicht versichert, nehmt es einfach!", drängte ich noch einmal und endlich nahm einer der Männer mein Angebot an. „Okay. Wir werden unser Bestes geben."

Ich schaute dem Auto hinterher, bis es endgültig im Wald verschwunden war und ich nicht einmal mehr die Rücklichter sehen konnte. Dann nahm Molly mich in ihre Arme.

"Danke Stegi, du bist ein guter Junge. Aber was ist eigentlich zwischen euch passiert? Wie ist es zu alldem gekommen?"

Woher sie bereits wusste, dass etwas 'zwischen uns' passiert war, war mir ein Rätsel. Weder Tim noch ich hatten ihr gegenüber bisher ein einziges Wort über den vergangenen Abend erzählt. Selbst jetzt zögerte ich, was ich ihr sagen sollte und was nicht. Molly sollte die nächsten Tage nicht denken, dass ihr Ziehsohn ein potenzieller Vergewaltiger war, so gerne ich diese Worte auch endlich einmal ausgespuckt hätte. Was sie aber wissen musste war, dass er sich gestern völlig unnormal verhalten hatte, so un-Tim-haft wie noch nie. „Naja, er war erst sehr spät aus dem Stall zurück gekommen", begann ich also vorsichtig, „Und er hat komisch gerochen. Wir haben uns gestritten weil er mich wegen etwas furchtbar missverstanden hat und als... als es richtig schlimm wurde, bin ich aus dem Haus gerannt und habe hier im Stall übernachtet."

„Dann ist er dir also nachgelaufen, ja? Verstehe... magst du mir erzählen, worüber ihr euch gestritten habt?"

Ich schüttelte hektisch den Kopf. „Nein... Ein anderes Mal vielleicht. Tim war jedenfalls nicht er selbst. Er war mega komisch, zuerst hat er mich völlig kalt angestarrt und dann Dinge gesagt, die er normalerweise niemals sagen würde. Ich-" Ein Schwall Tränen hatte sich in meine Augen hochgekämpft und drohte überzulaufen bei meinem nächsten Satz. „Ich habe sogar darüber nachgedacht, von hier wegzugehen. So schlimm war es. A-aber dann hast d-du jetzt alleine so v-viel Arbeit und eigentlich gef-fällt es mir hier so gut und..."

„Hey, ganz ruhig Stegi... Lass es ruhig alles raus." Molly begann mich sanft hin und her zu wiegen und mir über den Kopf zu streicheln. Dabei machte sie weiterhin beruhigende Geräusche und ermutigte mich dazu, meinen mich erstickenden Gefühlen freien Lauf zu lassen. Und das tat ich dann auch, weinte stumm gegen ihre warme Schulter all meinen Kummer und meine Verzweiflung heraus, bis sich meine Kehle wieder weniger eng, mein Kopf wie leer gefegt und mein Herz besänftigter anfühlten. Bei Molly fühlte ich mich so geborgen, wie meine Mutter es niemals geschafft hatte. Ihre Liebe war echt, obwohl ich erst seit einem viertel Jahr hier lebte.

Als ich mich wieder von ihr löste, lächelte sie traurig. „Ich kann dich nicht aufhalten, wenn du nach eurem Streit nicht mehr hier bleiben kannst, aber ich wäre natürlich glücklicher, wenn ihr es schafft, euch zu vergeben. Ich weiß was du mit Tims Verhalten meinst. Er hatte solche Momente schon früher, in denen er furchtbar wütend oder anders emotional geworden war. Das letzte Mal ist aber schon zwei Jahre her. Ich hatte gehofft, das wäre endlich vorbei. Was ich sagen wollte ist, dass er das, was er während dieser Episoden sagt oder tut nicht so meint. Das ist keine Entschuldigung für sein Verhalten. Aber vielleicht nimmt es dir erstmal deine Bedenken ein wenig."

Ich nickte. Es erklärte tatsächlich einiges, doch es fiel mir immer noch schwer, Verständnis für Tim aufzubringen. Irgendwann vielleicht, aber jetzt grade ging es noch nicht. Dafür war mir der gestrige Abend noch zu sehr im Bewusstsein.

"Jetzt liegt es vorerst an uns beiden", seufzte Molly mit einem Rundblick über den Hof. „Ich fühle mich schrecklich dabei, dir so viel auf einmal aufzubürden, aber ganz alleine schaffe ich die Arbeit hier wirklich nicht mehr."

"Das macht nichts Mom!", murmelte ich zurück. Es war entschieden. Ich blieb hier, dort wo ich mich wohlfühlte und bei der Person, der ich wirklich etwas bedeutete. Bei meiner neuen Mutter. In Mollys Augen entdeckte ich wieder einen Hoffnungsschimmer. "Dankeschön, mein Sohn!"


In den folgenden Tagen wurde mir klar, wie hart Tim trotz seiner scheinbaren Entspannung immer mitgearbeitet hatte. Die Pferde raubten mir die Hälfte des Tages, sie mussten frühs auf die Weide geführt und abends zurückgebracht, gefüttert, getränkt und ausgemistet werden. Mit Misty musste ich ausreiten und vertraute darauf, dass sie den Weg zurück selber fand. Dann war noch die ganze organisatorische Planung, Stroh und Futtermittel mussten neu bestellt, sämtliche Kühe gemolken werden und und und... Molly half mir zwar, wo immer sie noch konnte, aber ich merkte schnell, wie sehr sie das anstrengte. Das Vertrauen das sie in Tim setzte war unglaublich, schließlich ging es dabei um die Zukunft dessen, was sie und ihr Mann vor so vielen Jahren gemeinsam aufgebaut hatten. Das alles managte Tim völlig selbstständig und ohne etwas dabei zu vergessen. "Mach dir keinen Druck Stegi, auch Tim hat mal klein angefangen, außerdem ist er älter als du und wurde an seine Pflichten noch herangeführt, du musst dich zurzeit gezwungenermaßen und plötzlich darum kümmern und dafür machst du deine Aufgabe echt gut!", lobte Molly mich ab und zu abends, wenn ich mich völlig fertig und mit vor Stress ratterndem Kopf über ihr köstliches Essen hermachte. Das war dann die Krönung des Tages und der Grund, warum ich ohne größere Sorgen und zufrieden mit mir und der Welt ins Bett fallen konnte. Und doch, die Arbeit schaffte mich, aber nicht nur im negativen Sinne. Als ich eines Nachts nach dem Zähneputzen aus Spaß meine Arme anspannte, konnte ich tatsächlich sehen, dass sie ein wenig muskulöser geworden waren. Meine Haare konnte ich mittlerweile auch schon zu einem winzigen Zopf binden, davor hatte meine leibliche Mutter genau das immer verhindert und dafür gesorgt, dass meine Frisur ja kurz und jungenhaft blieb. Nach außen hin hatte ich trotz der miesen Behandlung immer gepflegt und wie ein Kind aus reichem Hause aussehen müssen, hier war das egal und ich begrüßte diese persönliche Freiheit sehr.

Zwei Wochen vergingen, bis Tim von den Leuten vom Krankenhaus wieder auf unserem Hof abgesetzt wurde.

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