27.

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Ein vielstimmiges Grunzen war auf einen Schlag zu hören und mir gelang es endlich, mich ruckartig von Tim loszueisen. Mit fahrigen Fingern kramte ich in meinen Taschen. Das Babyfon! Die Kleinen mussten schon einen riesigen Hunger haben! Ich hatte ganz vergessen, sie vor dem Ausreiten nochmal zu füttern und bis zum Hof war es noch weiter Weg.

Tim sah wie vor den Kopf gestoßen aus, als ich mich aufrappelte und an Mistys Zügeln werkelte, um sie von dem Ast zu lösen. Aber er sagte nichts oder hielt mich auf. Trotzdem glaubte ich zu spüren, dass er innerlich gerade tobte und von widersprüchlichen Gefühlen zerrissen wurde. Und was war verdammt nochmal mit mir los gewesen?! Ich wusste es immer noch nicht. Wären wir nicht gestört worden, würde ich jetzt in einen Kuss mit jemandem verstrickt sein, von dem ich diese Art von Zuneigung nicht wollte, auch noch gegen meinen eigentlichen Willen. Das durfte mir nicht noch einmal passieren, ab jetzt musste ich besser aufpassen und meinen Mund aufkriegen, bevor es zu spät-!

"Na komm Stegi, die Ferkel warten auf ihr Futter. Und vielleicht auch auf ihre Mama", scherzte Tim, der in der Zwischenzeit bereits auf sein Pferd geklettert war. Aber ich hörte, wie hohl sein Witz nach der Situation eben klang. Er musste wirklich geglaubt haben, hier mit mir ungestört zu sein, auch wenn es bestimmt nicht von Anfang an sein Plan gewesen war, mir so nahe zu kommen.

Schnell schwang ich mich auf meine Stute, lenkte sie herum und trieb sie zum Trab an, meinem Kumpel hinterher, der sein Pferd ebenfalls zur Eile antrieb. Es dauerte nicht lange, bis ich ihn wieder eingeholt hatte, Misty war eine verdammt gute Sprinterin.

Das Babyfon gab auf dem gesamten Rückweg keine Ruhe, der einzige Ausschalter befand sich an dem Gerät im Stall. Ich konnte mir gut vorstellen, wie die winzigen rosa Nasen über den Rand der Holzkiste lugten und ihre schwarzen Knopfäuglein bereits bettelnd nach der Person Ausschau hielten, die sie zuvor bei dem leisesten Geräusch sofort versorgt hatte.

"Okay Stegi, ich werde etwas wagen, vertrau mir und halte dich ganz doll im Sattel fest! Beug dich aber nicht zu weit vor!" Mit diesen Anweisungen gab Tim seinem Pferd mit den Fersen das Signal zum Galopp. Und Misty machte begeistert mit.

Es war ein ganz anderes Gefühl als das Traben. Im Trab hatte man stets den Boden unter sich gespürt, selten hatten alle vier Hufe gleichzeitig vom festen Grund abgehoben. Galopp hingegen war ein Schaukelflug sondergleichen. Ich merkte jeden Aufschlag auf dem mit Wurzeln überzogenen Weg, betete zu Gott, dass die Stute und auch Rexi vor uns nicht ins Stolpern kommen würde und krallte mich in den Sattel. Es war wild, die höchste aller Freiheiten auf dem Pferderücken, doch genauso groß war mein Respekt und auch die Furcht. Während ich unkontrolliert auf- und abfederte, hielt sich Tim wie eine Eins. Er war die Bewegungen gewöhnt, geriet nicht aus dem Takt, bewegte sich ähnlich im Sattel wie im Trab und stemmte sich immer dann, wenn sein Shire Horse abhob, in die Steigbügel. Mein Versuch ihn nachzuahmen scheiterte kläglich, also beließ ich es dabei, mich von Misty durchschütteln zu lassen, bis wir den Waldrand erreicht hatten. Dankbar ließen wir unsere schnaubenden Pferde wieder in die langsamere Gangart zurück verfallen und sprangen, kaum dass wir vor dem Stall angekommen waren, wieder von ihren Rücken herunter.

Markus schien vor Hunger bereits so mutig gewesen zu sein, dass er seine Vorderbeine über die Wand der Kiste befördert hatte und jetzt halb in der Schwebe zwischen kuscheligem Stroh und kalter Abstellfläche hing. Schnell hob ich ihn zurück nach drinnen, füllte die Nuckelflasche auf, nahm Charlotte aus dem Pulk an quiekenden und leise grunzenden Ferkeln heraus und fütterte sie zuerst. Absichtlich, noch immer hielt sich unbewusst die Abneigung gegen das eine männliche Schweinchen.

Erst nachdem alle anderen versorgt waren, nahm ich das Schoßhündchen heraus. Als ob es wusste, dass es weniger als seine Geschwister geliebt wurde, hatte es mit Fiepen und Quieken aufgehört und mir den Hintern mit seinem Ringelschwanz zugedreht. Auch verweigerte er plötzlich die Flasche, selbst nachdem der Nuckel bereits in seiner Schnauze klemmte, begann er nicht zu trinken. Meiner leichten Frustration folgten Ungeduld, dann Ratlosigkeit und dann Furcht. Selbst wenn ich den Racker nicht sonderlich mochte, hätte ich ihm nie eine Krankheit oder sogar noch schlimmeres gewünscht.

"Komm schon, komm schon!", drängte ich ihn verzweifelt, als er bereits zum dritten Mal den Gummiverschluss ausspuckte und dann zu Weinen begann. Ein fürchterlicher, langgezogener, quiekender Klagelaut, der nur von kurzem Schnuffen durchbrochen wurde, als würde er schluchzen. In der Ferne hörte ich alarmiert eine Tür aufschwingen. "Ich habe es doch nicht so gemeint Markus! Ich mag dich doch, bitte nimm jetzt die Flasche an!", flehte ich leise und kniff die Augen zusammen, konnte mir vorstellen, dass die Schuld wie mit roter Tinte auf meiner Stirn geschrieben stand. Dann stoppte das Ferkel plötzlich mit seinem durchdringendem Schrei. Sein Bauch blähte sich ein kleines Stück, dann rülpste es einmal laut, genau in dem Moment, als Tim im Laufschritt um die Ecke bog.

"Stegi? Stimmt was mit dem Kleinen nicht?", wollte er verunsichert wissen und verwundert schaute ich Markus an. Jetzt schien er wieder putzmunter und glücklich. "I-ich dachte schon. Er wollte nicht- und jetzt nur das. Hah, bloß ein Bäuerchen, der kleine Stinkstiefel", stotterte ich unzusammenhängend und erleichtert, probierte noch einmal ihn zu füttern und wurde von seinem kräftigen Appetit völlig überrumpelt. Wenn er so weitermachte, würde er eines Tages doppelt so groß und breit wie seine Wurfgefährten sein. Tim schien besänftigt.

"Schwein gehabt würde ich sagen! Wenn das nochmal passieren sollte, kannst du ihnen leicht den Bauch massieren, das sollte helfen. Ungefähr so:" Er stellte sich neben mich und begann mit zwei Fingern gegen den Uhrzeigersinn Kreise auf Markus' Unterleib zu ziehen. Dem ersten Rülpser folgte ein zweiter, weitaus leiserer, dann begann er fröhlich zu grunzen. Nicht nur ein Stinkstiefel, ein kleiner Schelm war er auch noch!

Tim zog seine Hand zurück und streifte dabei versehentlich meinen Arm. Ich schaute zu ihm auf und es war, als hätten wir die kleine Lichtung um den Teich niemals verlassen. Wieder hatte ich ihm erlaubt, mir so nahe zu kommen und wieder sah er mich an, als wolle er noch weitergehen. Mein Gesicht streicheln, mich küssen und vieles mehr, das ich mir im Moment nicht einmal vorstellen wollte. Hier würde mich kein Babyfon mehr retten. Die Einzige, die dazwischen platzen konnte, war Molly und die schaute nur selten im Stall vorbei. Also musste ich mich endlich zusammenreißen und sagen, wie ich mich fühlte!

„D-die Hühner sind noch draußen, ich sperre sie lieber ein bevor es nachher zu dunkel wird", stotterte ich die dümmste Ausflucht aller Zeiten zusammen, gerade als Tim einen Arm besitzergreifend um mich schlingen wollte. Er sagte nichts dazu und ließ mich gehen, aber seinen Blick spürte ich noch in meinem Rücken, bis ich aus seiner Sichtweite verschwand. Und wieder hatte ich meine Bedenken nicht geäußert und das Unvermeidbare bloß herausgezögert. Warum war ich nur so ein verdammter Feigling?

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