36.

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Als Tim wiederkam, saßen ich und Molly bereits vor vollen Töpfen und leeren Tellern unten am Tisch und warteten auf ihn. Vorsichtig warf er mir einen Blick zu und ich zwang mich, ihn nicht allzu offensichtlich ertappt zu erwidern. Ich hatte wirklich versucht zu schlafen in der Zeit, die ich im Bett gelegen hatte, aber war nicht zur Ruhe gekommen. Tims Konflikt hätte ich am liebsten auch überhört, aber das war unmöglich gewesen. Jetzt musste ich so tun, als wäre alles ganz normal, obwohl Tim mich beinahe schon wieder ohne mein Einverständnis geküsst hätte.

"Eine Henne wurde vom Fuchs geholt", berichtete er währenddessen säuerlich, "Überall lagen noch die Federn herum, war wie immer eine riesige Sauerei! Es hat ewig gedauert, bis ich den Rest wieder in den Verschlag scheuchen konnte."

Ich hatte seinen Atem gehört und die Wärme an meiner Haut gespürt, so nahe war er mir gekommen. Dann hatte er sich wahrscheinlich selbst geschlagen und Sachen vor sich hingemurmelt. Sein Verhalten hatte mich gegruselt und ich hatte Schwierigkeiten gehabt, mich weiterhin schlafend zu stellen. Hätte er sich aber wieder an mir vergangen-...

„Stegi?"

Ich schreckte auf und fing Tims verunsicherten Blick auf: „Äh, j-ja?"

"Bist du noch müde? Du hast eben ausgesehen, als könntest du jeden Moment wegnicken und nach vorne umkippen. Wär doch schade ums Essen."

Ich zwang mich zu einem Lächeln und einem Nicken. Während ich aß, machte ich mir trotzdem weiter meine Gedanken. Ich glaubte jetzt zu wissen, welches Problem Tim hatte und warum er manchmal so unberechenbar und seltsam wurde. Vorhin hatte er sich gestritten, aber mit sich selbst. Mit einem anderen Teil von sich. Davon hatte ich schonmal gehört, das war eine psychische Krankheit. Ich verstand bloß nicht, warum Molly das nicht wusste oder zumindest ahnte und wieso Tim uns das verschwieg. Das war doch nicht so schlimm, deswegen würde ich ihn nicht hassen! Aber wenn ich das Gehörte jemals vor Tim erwähnte, würde ich alles nur noch schlimmer machen.

"Da fällt mir ein, ich wollte euch noch etwas erzählen. Erst wusste ich nicht, ob ich es nicht doch für mich behalten sollte, aber das wäre euch gegenüber nicht fair!", fiel meinem Bruder plötzlich ein, als sein Teller schon vollkommen leer geputzt war. Überrascht schaute ich ihn an. Würde er uns jetzt doch erzählen, was mit ihm los war? Aber stattdessen begann er von den beiden Wochen im Krankenhaus zu erzählen und dass er dort jemanden auf seinem Zimmer getroffen hatte. Zum Ende klappte mir überrascht der Mund weit auf: "Deine leibliche Mutter? Hat noch einen Sohn? Und hat sie dich wiedererkannt?",fragte ich keuchend. Tim nickte. "Ich denke schon. Sie hatte mich erschrocken angeschaut und dann so schnell wie möglich das Zimmer verlassen. Aber sie hat so ausgesehen, als könne man vielleicht normal mit ihr reden. Deswegen würde ich sie gerne mal besuchen, um das Kapitel für mich abschließen. Wäre das okay für dich Molly?"

Sie überlegte einen Moment. Bestimmt hatte sie Angst, nach dem was diese Frau Tim in der Vergangenheit angetan hatte. Aber als sie ihm antwortete, klang sie nur unendlich herzlich: "Das würde ich dir niemals verbieten. Ich verstehe dich. Wenn du glaubst, mit ihr deinen Frieden schließen zu können, dann freue ich mich sehr für dich."

"Dankeschön Mutter!", erwiderte Tim, sein Blick an Molly sagte alles weitere. Wieder bewunderte ich das unendliche Vertrauen der beiden ineinander, sie waren sich wirklich so nahe wie eine Familie. Ich beneidete sie sogar beinahe um dieses Band. Am liebsten wäre ich auch vollkommen ehrlich mit ihnen, aber mittlerweile war ich so tief in meinem Lügennetz verstrickt, dass ich es nicht mehr ohne Folgen auflösen konnte. Für sie würde ich für immer Stegi bleiben...

"Magst du mich vielleicht begleiten, wenn es soweit ist? Ganz alleine würde ich mir vermutlich wie ein Eindringling vorkommen. Aber das hat alles noch Zeit", meinte Tim und erst relativ spät bemerkte ich, dass er die Frage an mich gerichtet hatte. Mein heftiges Nicken brachte ihn zum Lachen: „Ohje, du solltest wirklich schleunigst ins Bett! Geh schonmal hoch ins Bad, ich mach den Abwasch an deiner Stelle."

Ich protestierte nicht, stand auf und ging nach oben. Zwar war ich nicht unendlich müde, aber ich hoffte insgeheim, später nochmal mit Tim alleine reden zu können. Ob er meine Vermutung mit seiner gestörten Persönlichkeit bestätigen würde, wenn ich ihn ohne Molly in der Nähe darauf ansprach? ...Nein, das konnte ich niemals so gut verpacken, dass er nicht erriet, was ich vorhin belauscht hatte. Konnte ich das Thema dann irgendwie anders ansprechen, sodass es nicht sofort auffiel?

Nach dem Zähneputzen hatte ich immer noch keinen guten Anfang gefunden und ich gab es auf. Das musste sich einfach mal in einem natürlichen Gespräch ergeben und dann musste ich meine Chance nutzen. Leicht frustriert ging ich auf unser Zimmer, zog mich um und legte mich aufs Bett. Mit Schlafen wollte ich trotz allem warten, bis Tim hier war, damit ich keine Angst vor weiteren Ausrutschern haben musste.

Doch mein Vorhaben war umsonst und ehe ich mich versah, fielen mir schon die Augen zu.

Zeig mir was Leben ist! (#Stexpert)Where stories live. Discover now