Und dann war der nächste Morgen angebrochen. Hell und klar wie ein Bergkristall. Die Luft war erfüllt vom Gezwitscher der Vögel draußen auf der Straße und der alte Fabrikschornstein, den ich durch das winzige Fenster erkennen konnte und der in der Nacht zuvor noch so bedrohlich und düster gewirkt hatte, sah mit einem Mal viel harmloser und freundlicher aus. Ein Sonnenstrahl durchbrach das schummrige alte Zimmer und ich sah den feinen Staub darin aufwirbeln.

Ich richtete mich langsam auf. Die Welt war so fremd und fern hier an diesem Ort, so weit weg von zu Hause. Was meine Eltern wohl gerade trieben? Mein Blick wanderte durch den staubigen, vernachlässigten Raum. Ich schob die dünne Decke beiseite, von der ich mich nicht erinnern konnte, sie gestern Abend überhaupt angerührt zu haben und stand auf.

Plötzlich bemerkte ich Snape, der im Türrahmen gegenüber lehnte, eine dampfende Tasse Tee in der Hand haltend. Die Röte schoss mir innerhalb von Sekunden ins Gesicht. „Guten Morgen, Professor."

Er nickte mir zu, nahm einen Schluck von dem Gebräu und ließ sich in den Sessel gleiten. Er schlug die neueste Ausgabe des Tagespropheten auf und verschwand für die nächste halbe Stunde hinter der Zeitung.

Ungeduld war nie eine meiner leitenden Eigenschaften gewesen, doch heute spürte ich, wie sie zunehmend in mir wuchs. Nach einer gefühlten Ewigkeit faltete Snape den Propheten endlich zusammen und fuhr sich mit der Hand durch das strähnige dunkle Haar.

„Sie werden wohl nie Ruhe geben, nicht wahr, Miss Malfoy?"

Ich lächelte entschuldigend.

„Setzen Sie sich." Er wies auf einen soliden Stuhl nahe dem Fenster. „Beginnen wir also sogleich. Sind Sie bereit?"

Überrascht sah ich ihn an, doch nickte.

„Eine verbale Antwort bitte, Miss Malfoy!"

„Ja, Sir. Verzeihung."

Er zog den Zauberstab aus den Falten seines Umhangs und ließ ihn in beinahe spielerischer Eleganz durch seine schmalen Finger gleiten. Dann sah er mich an und nagelte mich mit seinem durchdringenden Blick auf dem Stuhlboden fest. „Leeren Sie Ihren Geist, kontrollieren Sie Ihre Emotionen, lösen Sie sich von allen Gefühlen und halten Sie sich bereit."

Er hob langsam seinen schwarzen Zauberstab und zielte mit dessen Spitze direkt auf mein Gesicht. Meine Finger schlossen sich um die Lehnen des alten, geschmeidigen Holzstuhles und ich schloss die Augen. Ich holte tief Luft. Wie leerte man seinen Geist?

„Auf drei", sagte Snape. „Eins..." Ich verkrampfte mich und versuchte verzweifelt, meinen Geist zu leeren und an nichts zu denken, doch immer wieder blitzten verschiedene Bilder vor meinem inneren Auge auf. „Zwei...", sagte Snape. Ich presste nun auch die Lippen aufeinander. Moment. Stopp. Ich war nicht bereit... Bloß an nichts denken, den Geist leeren... „Drei!" Mein Magen stülpte sich um. „Legilimens!"

Ich war nicht auf das vorbereitet, was jetzt geschah... Erinnerungen durchzuckten meine Gedanken wie Donnerschläge. Kurz und scharf tauchten sie vor meinem inneren Auge auf.

Die kleine blondgelockte Isabella, die wohl gerade erst laufen gelernt hatte, rannte durch einen Korridor mit hohen Wänden. Vorbei an den reichverzierten teuren Gemälden, vorbei an Staturen und Wandbehängen in den Farben Slytherins. Die pummeligen Kinderbeinchen stampften im unregelmäßigen Tackt über den mit dunkelgrünen Teppich ausgelegten Boden. Lucius Malfoys hochgewachsene Gestalt trat aus einem der Zimmer. Er hielt ein Leinenbündel in den Armen und wiegte es vorsichtig hin und her. „Es ist ein Junge, mein Mädchen", rief der Vater Isabella entgegen und seine Augen strahlten vor Glück. „Du hast ein Brüderchen bekommen, Bella. Schau her." Lucius beugte sich zu seiner Tochter hinab und kniete sich neben sie. Sein Blick war voller Wärme. Graue Augen schauten Isabella aus dem Bündel heraus still an, in die der kleine Junge gewickelt war. Seine winzigen Hände hatte er zu Fäustchen geballt. Ehrfürchtig trat sie einen Schritt nach vorn, sah unsicher zu dem Vater empor, auf der Suche nach seiner Einwilligung. Ihre kleinen Kinderfinger klammerten sich an den Umhangsaum des Vaters. Ihre sturmgrauen Augen erwiderten den Blick des Bruders ängstlich und doch voller Neugier. „Willkommen auf der Welt, Draco."

Isabella Malfoy Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt