Gleis Neundreiviertel

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Ich atmete weiterhin stumm den vertrauten Geruch meines Vaters ein und hielt den Kopf an seine Brust gepresst, während er mir mit seiner freien Hand sanft übers Haar fuhr.

Nach einigen kurzen Augenblicken beugte er sich zu mir hinab und hielt mich eine Armlänge von sich entfernt fest, während seine rechte Hand noch immer mit festem Griff meinen schlanken Oberarm umschloss.

„Isabella." Mein Vater seufzte. „Was mache ich nur mit dir? Warum redest du nicht mit mir, wie früher? Ich merke doch, dass etwas nicht stimmt. Was bedrückt dich, mein Kind?"

Er wischte mit seinem Zeigefinger erstaunlich sanft eine Träne von meiner Wange und ich hätte meinen Kopf am liebsten gleich wieder in seinen Armen vergraben, doch der Griff seiner Finger um meinen Arm ließ dies nicht zu und ich war gezwungen ihm ins Gesicht zu blicken.

Ich brauchte einige Minuten, um meine Stimme wiederzufinden, was allerdings nicht an dem vorherigen Silencio-Zauber lag, sondern vielmehr meiner Angst zuzuschreiben war.

„Ich weiß nicht", begann ich mit zittriger Stimme und hob den Blick. „Ich habe nur das Gefühl, dass ich dich ständig enttäusche und ich dich nicht mehr stolz mache. Ich glaube, ich bin dir nicht mehr wichtig", flüsterte ich.

Der Gesichtsausdruck meines Vaters wurde ernst, ehe er mir tief in die Augen sah.

„Isabella. Du und Draco seid das Wichtigste für mich. Ich könnte es nie zulassen, dass euch etwas geschieht. Ich weiß, ich verlange viel von euch, vielleicht sogar zu viel und ich bin manchmal sehr hart zu dir. Aber glaube mir, ich will nur dein Bestes. Ich möchte dich stark machen für diese Welt da draußen, damit du an ihr wächst und ich möchte dich vor Enttäuschungen, die das Leben bereit hält, so lange wie möglich bewahren. Man spürt all die Freuden seiner Kinder, auch ihre Schmerzen. Man sieht ihre Schwächen und gleich auch die eigenen. Man wünscht ihnen nur Gutes, damit sie den Qualen des Lebens entgehen. Ich erkenne so viel von mir selbst in dir wieder, die guten Eigenschaften, aber auch die weniger guten. Ich sehe deine Stärke und glaube mir, ich verstehe dich besser, als du vielleicht begreifen magst und all meine Entscheidungen berufen sich darauf, das Beste in dir zum Vorschein zu bringen und dich vor dem Grauen der Welt zu beschützen."

Er hielt inne.

„Aber ich kann das nicht, Vater. Ich bin nicht wie du!", stieß ich hervor.

„Ich möchte, dass du mir jetzt gut zuhörst, Isabella. Lass dir von keinem sagen, dass du irgendwas nicht kannst. Auch nicht von mir. Versprich mir das!"

Sein Blick wurde milder und die strengen und harten Gesichtszüge glätteten sich für einen Moment, und sein Gesicht wirkte für den Augenblick jünger und unbeschwerter, ehe er mich in die Arme schloss.

„Vater", flüsterte ich. „Ewig ringst du in mir. Und nie hörst du auf."

„Ich weiß, dass du mich nicht enttäuschen wirst, Bella! Merke dir meine Worte gut, Kind. Denn eines Tages wirst auch du diese Bürde tragen."

Er erhob sich seufzend und ließ mich los. „Und jetzt müssen wir los, sonst kommen wir zu spät."

Ohne sich noch einmal zu mir umzudrehen schritt er aus dem Studierzimmer und ließ dröhnende Stille zurück. Ich sank wieder auf den Teppich zurück und versuchte die Worte meines Vaters zu begreifen, denn ich war mir nicht sicher, ob ich sie überhaupt verstanden hatte.


Der Bahnsteig war voller Muggel. Doch mein Vater bahnte sich, uns allen voran schreitend, energisch einen Weg durch die Massen, bis wir vor einer Backsteinmauer ankamen, welche die Gleise Neun und Zehn in Kings Cross teilte. Es war zehn vor elf.

Isabella Malfoy Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt