Kapitel 90

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Seine Tränen fallen wie Regentropfen auf meine Haut und verdunsten sofort. Seine Augen sind ganz rot und verweint. So kenne ich ihn eigentlich gar nicht. Aber wen kenne ich eigentlich noch? Von wem weiß ich eigentlich, wer er wirklich ist? Ich bin mir mittlerweile bei keinem mehr so sicher.

Er versucht seine Tränen zu vertuschen, aber ich nehme seine Hand und drücke sie leicht. Er muss das nicht tun, nicht jetzt.

„Kate, ich dachte, du hättest mich verlassen", schluchzt er und drückt meine Hand ein wenig fester.

„Das könnte ich gar nicht", hauche ich. „Hilfst du mir hoch?"

Er antwortet nicht, sondern hilft mir vorsichtig hoch. Nun sitze ich vor ihm und blicke einfach nur in seine Augen. Dieser Moment war schön. Er war so wie früher. Früher, als er so weit von mir entfernt war, obwohl er doch immer bei mir war. Nein, ich könnte ihn nicht verlassen. Auch wenn er mir weh getan hat, ich könnte es nicht. Dafür liebe ich ihn zu sehr.

„Fynn", flüstere ich. „Danke."

Er nickt und zieht mich dann in eine lang anhaltende Umarmung, die mich ein bisschen abkühlt. Generell verlässt die Hitze meinen Körper langsam und ich steuere wieder auf meine normale Körpertemperatur zu.

„Tu das nie wieder, okay?", schluchzt er und blickt mir tief in die Augen.

„Was meinst du?"

„Erschrecke mich nie wieder. Das könnte ich nicht verkraften."

„Versprochen", flüstere ich und lege meinen Kopf an seine Schulter.

Jetzt erst fällt mir aber auf, dass ich eigentlich erwartet hatte, wieder in Moala zu sein. Fynn und ich waren in den Strom gesprungen und er hatte mir versichert, dass wir nach Hause kommen.

„Fynn, wo sind wir?", frage ich ihn.

„Ich wusste, dass diese Frage kommen wird. Das kann ich dir nicht genau sagen. Dein Vater will es mir nicht sagen."

„Mein Vater ist hier?", unterbreche ich ihn.

„Ja, also nicht direkt hier. Aber lass mich noch kurz zu Ende erzählen." Ich nicke und er fährt fort. „Ich habe erwartet, dass wir in Moala landen, aber irgendjemand scheint das Portal manipuliert zu haben. Jedenfalls sind wir jetzt hier. Es droht uns keine Gefahr, denke ich. Wir müssen trotzdem vorsichtig sein. Wir müssen zur Festung, denn dort ist auch dein Vater und wartet auf uns. Du hast wahrscheinlich eben gerade gerspürt, dass sich etwas in deinem Körper verändert hat, stimmt's?"

„Ja, nacheinander haben sich alle meine Muskeln und Organe angeschaltet."

„Genau. Du warst ja schließlich tot. Wir waren in der Hölle. Jetzt, da wir wieder auf dem Boden des Lebens weilen, musste sich dein Körper erst einmal rekonstruieren. Wir müssen jetzt los gleich los."

~

Ich atme die frische Abendluft ein, die sich leicht mit dem Geruch von frischen Blüten vermischt. Ich liebe diesen bestimmten Geruch, den Geruch von Frühling.

Den Moment gemeinsam mit Fynn genieße ich in vollen Zügen, bis wir uns dann aber auf den Weg machen müssen.

„Vertraust du mir?", fragt er mich, während er aufsteht und mir hoch hilft.

„Und wie ich dir vertraue", hauche ich und nehme seine Hand.

Sofort macht sich ein Lächeln auf seinen Lippen breit und seine Augen beginnen zu glitzern.

„Dann komm mit mir", flüstert er und zieht mich mit in den Sonnenuntergang.

Vielleicht habe ich mich, was Fynn angeht wirklich geirrt. Er ist ein richtig guter Freund. Er ist immer für mich da und er ist einfach nur so süß. Ich frage mich, wie ich ihn früher nur so gemein abweisen konnte. Im Nachhinein bricht es mir das Herz, wenn ich darüber nachdenke.

„Ist alles okay?", unterbricht Fynn meine Gedanken.

„Ja, ja es ist alles okay", stottere ich abwesend und richte meinen Blick wieder auf die Abendsonne.

„Worüber denkst du nach?", fragt er, ohne auf meine Antwort weiter einzugehen.

„Über nichts", lüge ich und erwürge mich innerlich.

Wieso kann ich ihm nicht einfach die Wahrheit sagen? Es ist nichts Schlimmes, mit jemandem ehrlich zu sein. Wieso kann ich es nicht? Wieso kann ich nicht mal aufhören, alle um mich herum anzulügen? Was ist denn so schlimm daran, seine Gefühle mit jemandem, der einem dabei helfen kann, sie zu verarbeiten, zu teilen? Vielleicht bin ich zu feige dafür.

Er belässt es bei der Antwort und runzelt nur die Stirn.

Die Sonne hängt nur noch an ihren letzten Fäden und droht, bald unterzugehen. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Wir müssen die Festung noch vor Vollmond erreichen.

„Wir müssen uns beeilen", wirft Fynn ein, als hätte er meine Gedanken gelesen.

Ich nicke und wir beschleunigen unser Tempo um das Doppelte. Die Berge hinter uns verschwinden langsam in der Dunkelheit. Ich muss nach vorne gucken, nicht nach hinten, rede ich mich ein, während ich Fynns Hand noch fester umklammere, als vorher.

Jeremy begutachtet erst unsere Hände und dann mich. Ich lächle verlegen und versuche dann in der Ferne eine Festung auszumachen. Ich versuche, mir einzubilden, dass ich sie sehen kann, doch wie gesagt, ich bilde es mir nur ein.

„Bist du dir sicher, dass das der richtige Weg ist?", zweifle ich und runzle die Stirn.

„Ja, ich bin mir zu 100 Prozent sicher. Diesen Weg hat dein Vater mir gezeigt. Ich kann mich noch an jeden einzelnen Baum erinnern, den wir passiert haben", antwortet Jeremy und geht zielstrebig weiter.

„Na gut."

Wir laufen immer und immer weiter und ich kann nichts als blühende Bäume und grünes saftiges Gras ausmachen. Aber ich vertraue Jeremy, dass er mich nicht in die Irre führt. Er weiß ganz genau, wie wichtig mir Moala ist und dass ich nur nach Hause will.

„Fynn?"

„Ja?"

„Kann ich dich etwas fragen?"

„Natürlich", meint er offen und verlangsamt sein Tempo ein wenig.

„Was hast du jetzt mit Luca gemacht?", frage ich ihn vorsichtig.

„Ich habe das erledigt", sagt er ernst und streng.

Ich habe jedoch das Gefühl, dass er mir etwas verschweigt. Ich sehe es in seinen Augen. So, wie er verlegen zu Boden guckt und doch versucht, mit meinen Blicken stand zu halten.

„Versprichst du mir, ab jetzt immer die Wahrheit zu erzählen?"

„Ja, ich verspreche es", behauptet er.

„Also, hast du mir etwas zu sagen? Oder sollte ich noch irgendetwas wissen?", frage ich nach.

„Was meinst du damit?"

„Hast du mir alles erzählt, oder ist da noch etwas, das ich wissen sollte?"

Wieder schaut er verlegen auf den Boden und kratzt sich nervös am Kopf.

„Jeremy, ich sehe, dass du mir etwas vorenthältst. Was immer es auch ist, du kannst es mir erzählen. Ich werde dich schon nicht umbringen", verspreche ich ihm ruhig und greife erneut sanft nach seiner Hand.

Ich verschränke meine Finger mit seinen und gucke ihn ernst, aber nicht streng an.

„Oh doch, ich glaube du wirst mich am liebsten Foltern, wenn ich dir das erzähle", atmete er schwer aus. „Komm, wir müssen trotzdem weitergehen", schlägt er vor und wir gehen weiter den Weg. „Ich glaube, dass dir das, was ich dir jetzt erzählen werde, nicht besonders gefallen wird......."


Die ElementehüterinWhere stories live. Discover now