F O U R

1K 85 8
                                    

F O U R

Als der letzte Satz über meine Lippen glitt und mein Mund den Text wie ein Gedicht aufsagte, vernahm ich eine ungewollte und schaurige Leere in mir. Das Mädchen, was ich einst bekämpft, gefürchtet und, ja, sogar gehasst habe, sie war auch diejenige gewesen, die so viel Leid ertragen musste. Ich wusste, dass ihr Leben um Einiges schlimmer und grausiger verliefen war, als das von mir. Doch die Details zu hören, wie sie geschlagen wurde, wie sie grundgenommen behandelt wurde, erzeugte in mir eine Wut und eine unfassbare Traurigkeit, die ich in diesem Moment niemanden gewünscht hätte. Wie konnte jemand so etwas einem 15-Jährigen Kind antun? Fireempress war unschuldig gewesen, und größtenteils naiv. Das S.H.I.E.L.D, das aus der anderen Dimension, war sündig. Und ich hasste diese Organisation so abgrundtief dafür, dass ich vergaß, was das frühere Opfer mir eigentlich alles angetan hat. So viele Schmerzen, die sie mich lernen lassen hat, die ich noch in Erinnerungen behielt, waren wie vom Erdboden verschluckt und ungewollt baute sich eine angsteinflößende Sympathie zu ihr auf. Ich wusste, das war falsch, aber wem würde sie jetzt wohl nicht Leid tun? Ich wollte die restlichen Texte, die sie bestimmt geschrieben hat, mir gar nicht vorstellen. Vielleicht waren sie schauerlicher, horrender? Schon allein der Gedanke daran ließ meine Augen feucht werden. Was mir die ganze Zeit für ein Privileg geboten war, während sie tatsächlich behandelt worden war, als wäre sie ein elendes Stück Dreck. Sie war tatsächlich diejenige gewesen, die von uns eine Gefangene war. Beinah verhungert und misshandelt. Wie konnte ich mich bei solchen Dingen und Umständen beklagen, wenn mein zweites Ich so viele Taten hinter sich ergehen lassen musste, sodass S.H.I.E.L.D aus einem kleinen, unwissendem Mädchen eine Tötungsmaschine, ein Monster fabrizierte? Ich wünschte, ich könnte in die Zeit zurück reisen, vielleicht sogar in eine andere Dimension, um Fireempress in ihrer schwierigen Situation helfen zu können. Aber ich wusste, mir würde das nicht gelingen. Fireempress war tot.

Im Raum war es totenstill. Keiner wagte es zu reden, zu laut sich zu bewegen, nicht einmal zu laut zu atmen, war bei einer solchen Situation gestattet. Ich wusste nicht, ob dem so war, weil sie so baff waren, dass ich die geheimnisvollen Schriften lesen und übersetzen konnte, oder weil ihnen Fireempress genauso leid tat wie mir. Aber in diesem Momen war es uns allen egal. Beide Überraschungen waren imposant, während die eine erfreulicher, und die andere schockierender war. Es war einfach kein Zeitpunkt, bei dem man Worte wechseln konnte. Und wollte.

---

Geistlich abwesend und in Gedanken versunken starrte ich auf das erneut veränderte Fenster, was mir nun einen kleinen Wald zeigte, durch den eine einsame Quelle floss. Ich stellte mir vor, wie ich mit dem Strom mitschwam. Wie viele Dinge ich wohl gesehen hätte. Kleine Fische, die von der wärmenden und lebendigen Sonne in einen Mantel, bestickt mit regenbogenfarbenden Schuppen, gekleidet worden waren, und hibbelig sich von der Strömung leiten ließen. Die Frösche, deren glitschige Haut dem giftigen Grün der Waldgräser glich, während sie sich in ihrer Umgebung umsahen, und nicht einmal die Hälfte der Schönheit erkennen konnte, wie ich es tat. Die Vögel, die den tänzelnden Tieren mit ihren klirrenden Tönen und Sängen begleiteten und ihr Gefieder die wunderschönsten aller Farben wiederspiegelten. Ich liebte alles an dem Bild vor mir. Jede noch so unbedeutende Kleinigkeit. Bei solchen ruhigen, entspannenden Momenten wurde mir häufig einiges klar.

Manchmal wünschte ich mir, dass ich jemand anderes sein könnte. Nicht Alice Bruce, das Mädchen mit den Superkräften, das jüngste Avenger Mitglied. Nicht Tony Stark oder Captain America. Vielleicht eines dieser Tiere in dem Wald. Eines, was keine Ahnung von der Welt hatte, in der wir lebten. Keine Welt mit Männer in Blechanzügen, Profikillern, grünen Physikern oder unmenschlich starken Amerikanern. Manchmal wünschte ich mir jemand Unsichtbares zu sein. Durch Menschenmengen gleiten, ohne mich zu fürchten. Ohne, dass jemand weiß, dass ich existend bin. Einfach mal für ein paar Sekunden nicht gegenwärtig sein. Mit niemanden reden zu müssen, oder Angst haben, angesprochen zu werden. Einfach auf Wiesen liegen und nicht gefragt werden, warum ich hier ganz alleine sei. Einfach mal nichts tun und alles um sich herum vergessen.

F I R E E M P R E S SWhere stories live. Discover now