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  Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast? Falsch – nicht vor einem, sondern vor zwanzig Jahren… Optimale Voraussetzungen für ein Jahrgangstreffen, oder nicht?

Ich muss zugeben, dass ich keine Ahnung hatte, welche Handlung mich nach der Triggerwarnung erwarten würde, und zunächst sah alles für mich nach einer der Highschool- bzw. Jahrgangstreffen-Erzählungen aus, von denen ich schon einige gelesen oder sogar im Fernsehen gesehen habe. Doch dann die erste Überraschung: Bäm! - Kapitel für Kapitel erzählst du die Geschichte rückwärts, um am Ende mit einem spektakulären Twist aufzuwarten.

Dadurch wurde ich förmlich in die Handlung hineingezogen, weil ich wissen wollte, was vorher geschah. Das bedeutet aber auch, dass ich bei meiner Beurteilung nicht zu tief ins Detail gehen kann, da ich keinesfalls spoilern möchte, denn das wäre bei deinem wirklich tollen Beitrag kontraproduktiv.

Schon zu Beginn sind mir bestimmte Schwingungen zwischen den Charakteren aufgefallen, und je weiter die Geschichte fortschreitet, desto mehr tritt zutage, warum das so ist. Dazu bedarf es jedoch keiner Flut von Sätzen – nur wenige davon, Dialoge inbegriffen, lassen eine Tiefe erahnen, die sich mir nicht nur mit dem Lesen der folgenden Kapitel erschließt, sondern vor allem auch aus dem, was ich zwischen den Zeilen lesen kann. Und liest man die Geschichte erneut, offenbaren sie ihren eigentlichen Sinn, vorausgesetzt, man hält das in späteren Kapiteln Offenbarte im Hinterkopf.

Mir kam es so vor, als fände in deiner Geschichte eine umgekehrte Charakterentwicklung statt – gerade Amber ist für mich ein Beispiel dafür, wie ihr wahrer Charakter erst nach und nach zutage tritt.

Obwohl die Geschichte abwechselnd von Amber und Scott erzählt wird, kommen die restlichen Charaktere keinesfalls zu kurz, was auch an den wirklichkeitsnahen Dialogen liegt. Durch sie bekommen auch Scotts Schwester Coralie und der Sohn des Direktors unverwechselbare Gesichter. Zu keiner Zeit hatte ich das Gefühl, es mit blass gezeichneten Abziehbildern zu tun zu haben. Ein weiteres Plus: Die Punkte aus der Triggerwarnung deutest du nur so weit an, wie es für die Geschichte sinnvoll ist, und dennoch konnte ich mir vorstellen, was in den Beteiligten vorgegangen ist.

Nun noch ein paar Anmerkungen nach all dem Lob: Vereinzelt sind mir Wortdopplungen und Füllwörter aufgefallen. Letztere habe ich in Klammern gesetzt, um zu erklären, was ich meine: Ich rannte zu meinem (geparkten) Auto und ließ mich auf den Fahrersitz fallen (Erklärung: Ich glaube, es liegt in der Natur der Sache, dass sie das Auto abgestellt hat und das Fahrzeug nicht in Bewegung ist).  Oder: Neben mir auf dem Beifahrersitz begann mein (eigenes) Telefon zu vibrieren.

Doppelte Wörter – hier halte ich folgenden Satz für stilistisch ausbaufähig: „Ich bin Thomas McCarter und bin der Sohn des verstorbenen Direktor McCarter“. Du könntest das doppelte „bin” vermeiden, um ihn eleganter klingen zu lassen. Oder du schreibst ihn um, vielleicht so: Mein Name ist Thomas McCarter und ich bin der Sohn des verstorbenen Direktors.

Doppelt ist übrigens auch das Wort „offenbart” aufgetaucht, das sich leicht durch ein passendes Synonym ersetzen lässt. Aber da ich glaube, dass du über einen großen Wortschatz verfügst, dürftest du damit keine Schwierigkeiten haben.

Vielleicht handelt es sich bei diesen Beispielen aber auch um ein Versehen (Flüchtigkeitsfehler), ebenso wie bei ein oder anderen Fehler in der Zeichensetzung, wie z.B. hier: „Ich war wohl betrunkener, als gedacht “ (dieser Satz benötigt kein Komma).

Doch das sind, wie gesagt, nur Kleinigkeiten, die weder den Lesefluss gebremst noch meinen Lesegenuss beeinträchtigt haben. Mein Fazit: Die Kunst, mit so wenigen Sätzen wie möglich starke Bilder in meinem Kopf entstehen zu lassen, gelingt nicht vielen. Mit deiner rückwärts erzählten Geschichte aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln hast du jedoch bei mir voll ins Schwarze getroffen, und bei mir hat sie noch lange Zeit nachgewirkt.

Ideenzauber 2023 - KritikbüchleinWhere stories live. Discover now