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Liebe*r Autor*in,

ich finde es sehr mutig von Dir, dass Du Dich an der Urerzählung überhaupt versucht hast bzw. an einer bestimmten Auslegung davon. Du erzählst die „Geschichte" von Adam und Eva bzw. ist es eigentlich eher Evas Weg zu Selbstbestimmung und Freiheit. Diesen setzt sie gegen äußere Widerstände (den Willen Adams und den des „Vater") durch und flieht den Verhältnissen, die man ihr übergestülpt hat und mit deren Existenz sie nicht einverstanden ist. Ich lese sie als emanzipatorische Geschichte - man mag dafür andere Worte nutzen (in der Geschichte gab es derer genug: abtrünnig, eigensinnig, verräterisch etc.).

Der Titel der Geschichte ist Lilith - nicht allein dadurch ist natürlich die Erwartungshaltung des Lesers da. Die Geschichte von Adam und Eva kennt glaube ich jeder und sie ist in tausend Variationen und Deutungen immer wieder und bis heute Thema in der Kultur- und Kunstgeschichte.

Da bedeutet aber auch, dass Du in verdammt große Fußstapfen trittst. Natürlich besteht die künstlerische Freiheit immer darin, auch bekannte Stoffe zu verfremden oder zu modernisieren. Ich finde das bei solchen Großthemen aber ausnehmend schwierig. Zum einen, weil so ziemlich jeder eine Haltung dazu hat und es als Autor*in außerordentlich herausfordernd sein dürfte, die Geschichte unerwartbar zu gestalten. Zum anderen, weil man ein bissel in der Gefahr steckt, die Symbole und Deutungen, die damit einhergehen, vielleicht nicht sicher genug im Griff zu haben, um die Geschichte glaubhaft zu machen.

Aus dem Gesagten kannst Du vielleicht schließen, dass ich mit Deiner Geschichte ziemlich zu kämpfen hatte. Ihre Grundmessage finde ich gut, denke aber, dass diese Urgeschichte als Emanzipationsgeschichte nicht so richtig taugt bzw. vielleicht zu voraussetzungsreich ist. Mein Gefühl beruht auch darauf, wie Du die Geschichte erzählst. Die Grundkonfiguration könnte man so zusammenfassen: Eva/Lilith möchte gerne den Apfel, darf aber nicht und versteht nicht, warum. Adam erwischt sie, ermahnt sie. Beide sind frustriert. Das wiederholt sich. Am Ende gelingt Lilith es doch und flieht in die Freiheit.

Abgesehen davon, dass historisch beide den Apfel essen und man beiden ein Befreiungsmoment zugestehen könnte finde ich die Figuren viel zu vorhersehbar. Leider auch die Geschichte insgesamt. Ich hätte mir ein Überraschungsmoment gewünscht, etwas, was von meiner Erwartung abweicht, etwas, dass das Ende anders ausfällen lässt. Leider ist nach den ersten zwei Sätzen völlig klar, wohin die Reise geht. Spannung kommt da für mich kaum auf, eben weil ich genau weiß was kommt. Wenn zumindest die Widerstände verschiedene wären, oder Lilith durch raffinierte Dialoge oder rhetorische Klugheit etwas mehr an Tiefe bekommt oder sich einen Trick oder Plan zurecht legt, der Adam so richtig auf dem falschen Fuß erwischt... dann hätte ich der Geschichte mehr abgewinnen können.

So wird sie zwar zur Sprengerin der Ketten, aber die platzen nicht vor Energie, sondern bröseln vor sich hin... um mal einen Vergleich zu nehmen. Sprachlich hast Du das ordentlich gestaltet. Die Geschichte liest sich flüssig und gerät selten ins Stocken.


Gestört hat mich schon, dass sich Dialogteile wiederholen... meist das, was ich oben bereits angedeutet habe. Das liest sich leicht nörgelig von ihrer Seite und genervt auf seiner .. wie ein schlechter Ehestreit, der immer um die gleichen Dinge kreist, ohne ein Ende zu finden. So sollte ein Disput der ersten Menschen aber nie klingen. 😊 Da erwarte ich Drama, Explosionen, Planeten, die aus den Fugen geraten oder ein Gott, der Adam einen Reisverschluss anzaubert, weil er Eva viel lieber mag.

Auch an den Beschreibungen kannst Du feilen. Eine stimmungsvolle Welt kann so manch ausbaufähigen Dialog/Konflikt aufwerten... leider gibst Du der Welt selbst nicht viel Raum. Den Sternenhimmel beschreibst Du schön, aber diese Farbe lässt Du sonst kaum etwas gedeihen. Das fand ich schade, denn Du kannst das.

Ich weiß, ich überspitze... aber so etwas hätte ich mir gewünscht. Vieeeeel mehr Mut, viel radikalere Handlungen, gerne auch etwas überzeichnet. So ist das in meinen Augen viel zu brav und langweilig... und vor allem vorhersehbar.

Ich ziehe den Hut davor, dass Du dir dieses Thema ausgesucht hast und dass Du dich an einer modernen Lesart versucht hast. Gib den Figuren in deiner nächsten Geschichte mehr Individualität, lasse sie mehr ausprobieren und Handlungsoptionen austesten... so kannst Du besser zeigen, dass Freiheit nach und nach errungen wird...erst wenn sie wirklich erkämpft ist, kann so ein Konflikt eine Geschichte nachhaltig bereichern.

Gesamtpunktzahl: 303 von 555

Ideenzauber 2023 - KritikbüchleinWhere stories live. Discover now