Epilog: Die Geisel der Hungerrebellion

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Jahr 1.069 nach der Langen Nacht; Provinz Phoenix; Lumista

Sie wurden abgeschlachtet. Wie Vieh, das ausgedient hatte. Beim Versuch, Sera zu beschützen, sind sie alle gestorben.

Blutverschmiert lagen sie auf dem einst grünen Gras neben ihren Waffen. Einem steckte der Bolzen noch in der Brust, ein anderer war verstümmelt und starrte reglos ins Blau des Himmels. Einem hatte es den Schädel zertrümmert und aus dem Bauch des Letzten quollen Eingeweide um die Mistgabel.

Die goldene Sonne auf ihren Brustplatten war vom Blut ertränkt.

Seraphina kauerte zwischen den Bäumen in den feuernden Brennnesseln. Sie hatte ihre Gugel weit übers Gesicht gezogen. Über ihre sonnengoldenen Haare. Ihre himmelblauen Augen waren verschlossen und einem Meer aus Regenwolken gewichen. Ihre Hände presste sie auf ihre Ohren.

Sie hätte Cor Sole nie verlassen dürfen! Dort hätte sie gewusst, wohin sie fliehen müsste. Hätte jeden Gang – jeden Winkel – dort gekannt. Was hatte ihr Vater sich dabei nur gedacht?

Sie blinzelte durch die verweinten Augen und lauschte in die Stille des Waldes.

Vögel. Raschelnde Blätter. Sonst nichts.

Die Bauern waren weg.

Mit bebenden Knien stolperte sie aus den Brennsesseln. Ihre Hände und ihr Gesicht brannten.

Sie fror.

Leichen – überall auf der Lichtung. Verstümmelt, verdreht, gespalten.

Steine und Stöcke bohrten sich in ihre Unterschenkel.

Warum?

Sie erbrach sich.

Warum?

Dieser Alptraum sollte enden!

Ihr Vater und die Räte hatten gesagt, das Volk liebte sie – dass Gefahr ihr nicht drohte. Wie konnten sie nicht wissen, dass sie versuchten, die Ratstochter zu töten?

Sie sollte in Arta sein, nicht hier! Sie wollte nach Hause!

In der Kälte der Nacht verließ sie den Wald.

Ihre Füße in den Zierschuhen schmerzten. Ihre Pferde hatte der wütende Mob gestohlen. Die nächste Sternenstadt war ihre einzige Hoffnung, Kontakt zu ihrem Vater aufzubauen. Nur wie weit lag sie in Fußmärschen entfernt?

Kälte.

Hunger.

Welche Pflanzen waren giftig, welche genießbar? Wie bereitete man sie überhaupt zu?

Das Dorf am Rand des Waldes mied sie. Vermutlich kamen die Mörder ihrer Leibgarde von dort.

Wohin konnte sie noch gehen? Wohin sollte sie noch gehen?

Über ihr blinkte der Erste Stern durch ihre Tränen, als wollte er ihr den Weg weisen. Neben ihm strahlte das Licht ihrer Mutter. Wäre sie noch am Leben, hätte sie niemals zugelassen, dass so etwas passierte.

Jetzt war der Silbermond alles, was ihr noch blieb: Ein Schatten der Liebe, die sie tief im Herzen noch kannte. Ganz anders als das dominante Licht ihres Vaters.

Wer hatte sich die Tradition der Vorerbezeit eigentlich ausgedacht? Das Volk kennenlernen, Blödsinn. Das Volk wollte sie tot sehen! Ihren Kopf mitsamt ihrem Banner dem Oberen Rat vor die Füße werfen!

In der Ferne schien die Laterne eines einsamen Weilers. Vielleicht durfte sie dort anklopfen. Vielleicht hatte dort jemand einen Schlafplatz und ein Mahl für sie übrig.

Sie pochte gegen die tiefgrüne Holztür mit gemalten, gelben Blumen in der himbeerroten Kalkfassade.

Keine Antwort.

War sie zu leise? Sollte sie es noch einmal versuchen?

Nach dem zweiten Mal schwang die Tür auf und eine junge Frau blickte sie aus schokoladenbraunen Augen an. Ihre haselnussfarbenen Haare flossen an ihren markanten Wangenknochen bis zur Brust herab.

Im Gegensatz zu Seraphinas ungepflegten Haaren, die sie wieder unter die Gugel schob.

Die muskulöse Frau beugte sich vor. »Kann ich dir helfen? Du siehst blass aus. Wenn du möchtest, kannst du die Nacht hierbleiben.« Ihre Stimme war wie ein See: So ruhig, dass seine Oberfläche den gesamten Nachthimmel spiegelte.

»D-danke.« Seraphina wandte ihre verräterischen Augen ab. Durfte sie ihr trauen? War sie hier sicher?

Die Frau schritt zur Seite, um sie einzulassen. Im Innern knisterte ein mollig warmes Feuer. Hier war sie sicher, richtig? Zumindest für eine Nacht.

»Du hast Glück, dass ich noch Reste vom Abendessen habe. Ich heiße Johanna. Wie lautet dein Name?« Johanna schloss die Tür und hängte einen Kessel übers Feuer.

»E-Emilia. Vielen Dank, dass du mich hier aufnimmst, Johanna.« Sie durfte ihr ihre Haare und ihre Augen nicht zeigen!

»Freut mich, dich kennenzulernen, Emilia. Im Augenblick haben wir nicht viel. Aber das, was wir haben, teilen wir gerne mit Bedürftigen. Hier, iss.«

Suppe. In der Hauptstadt unerhört, aber Seraphina aß. Was blieb ihr anderes?

»Schon seltsam.« Johanna setzte sich auf einen roten; weiß gemusterten Hocker. »Ich habe letzte Nacht von einem Mädchen geträumt, dass im Schlaf der Sonne zu mir kam. Scheint, als wäre es Schicksal, dass wir uns begegnet sind, Emilia.«

Johanna lächelte und Seraphina wusste: Hier war sie sicher. Hier durfte sie bleiben.

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