17. Die neuen Herrscher von Sale

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Tjelvar kam zu spät.

Der Himmel war schwarz, als er und Ctirad mit seinen Gefangenen auf dem ausgeleuchteten Marktplatz erschienen. Vom kleinen Fenster im abgeschlossenen Raum der Schenke hatte Sera die Moragi feiern sehen. Tortschen und einen brennenden Galgen ließen sich selbst die Kranken nicht nehmen.

Nun lehnte sie erschöpft im Obergeschoss der Schenke ›Steinschlag‹ am Kopfende des einzigen Betts im Raum und beobachtete Lucien. Kreidebleich und mit rot glühender Wunde lag er auf dem Bauch und schlief. Seine Schulterblätter hoben und senkten sich. Hoben und senkten –

Schmerz schoss durch ihre Nase durch den Schädel.

Wenigstens hielt der Schmerz sie wach, falls jemand zu ihnen kam und sie ihre Haare und Augen färben musste. Wenn die Moragi jetzt auch noch erfuhren, dass sie eine Seherin war, konnte sie sich gleich zum Galgen stellen.

Wenigstens hatte Stojan ihr nicht auch noch Gabenschlaf injiziert ...

Nur einen Arzt für Lucien hätte er ihnen schicken können. Stattdessen hatte das Mädchen vorhin nicht einmal gewusst, wie sie den Armbrustbolzen am besten herauszog.

Nicht, dass Seraphina ihr eine große Hilfe hatte sein können.

Lediglich, dass das Hospital direkt gegenüber stand.

~✧~

Olga hämmerte gegen die Tür, bevor sie den Schlüssel umdrehte und wie selbstverständlich das Zimmer betrat.

Der Himmel blutete von Osten her.

Wie der Verband um Luciens Schulter.

»Aufstehen! Stojan und der Fuchs wollen euch sehen!« Olga knotete ein Seil um Seras Handgelenke und zog es fest.

Ihr folgten zwei Moragi, die einem zwar wachen, doch vor Schmerzen stöhnenden Lucien auf die Beine halfen und aus dem Raum schleppten. Irgendjemand Qualifiziertes musste sich seine Verletzung dringend ansehen!

Auch Stojans Schwester wandte sich zum Gehen und riss am Seilende. Sera wäre vornüber gefallen, wäre das Seil nicht zu kurz gewesen. »Komm schon! Wir haben nicht ewig Zeit.«

Ihre Beine wackelten wie angesägte Tischbeine. Wusste der Mond, wie lange sie sie nach zwei Tagen ohne Mahl und Schlaf noch trugen. Sie folgte Olga die Wendeltreppe hinab, durch den mit gestapelten Bodenplatten übersäten Schankraum und auf den Marktplatz.

Mindestens einhundert Menschen hatten sich versammelt – starrten zu Sera, als sie der Schneise ihres Bruders nachschritt und in den freien Kreis trat. Stojan saß mit verschränkten Armen auf einem Schemel. Tjelvar stand kerzengerade, die Hände hinter dem Rücken.

Der verkohlte Galgen zwischen ihnen.

Seraphina und Lucien waren hinter Stojan und ihr Bruder fiel wie ein Sandsack auf die Knie. Neben ihnen – auch auf Stojans Seite – knieten Nolann und elf Soldaten: Blass und verwundet.

»Runter mit dir, Mädel«, knurrte Olga. Wie sie ihre Nase rümpfte, schlug die Haut um ihre Augen erste Falten.

»Nein, danke. Ich stehe lieber.« Sie war keine Geisel! War es nicht in Johannas Begleitung und würde diesen Wilden die Genugtuung des Scheins geben.

»Tse. Mach, was du willst.« Die Moragi zog ein letztes Mal am Seil, dass Sera strauchelte und stellte sich neben Stojan; stemmte die Fäuste in die Hüften und reckte das Kinn.

Seraphina stand. Sie drückte die Schultern durch, richtete ihren Rücken auf und hob das Kinn. Freiheit konnte man ihr nehmen – ihren Stolz bewahrte sie sich.

ScherbenweltWhere stories live. Discover now