6. Was von gestern geblieben ist

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Priester Michel schien alles andere als erfreut, die Füchse und drei Soldaten vor dem Kloster zu sehen. Die Herzlichkeit seines letzten Empfangs wich Reserviertheit und er flüsterte einem der verlegenen Mönche etwas zu. Sofort huschte dieser in die Gärten hinaus.

Anschließend formte sich das bekannte Lächeln in Michels faltigem Gesicht und er widmete sich den Soldaten; sprach mit ihnen und Tjelvar über mögliche Lieferungen, den Preis und sicheren Transport. Dass der Priester ungern Lebensmittel aus der Hand gab, wenn sie ihren Zielort womöglich nie erreichten, war das Letzte, was Sera hörte, ehe sie allein und unbeachtet auf dem Vorplatz stand.

Wenigstens dieses Mal half ihnen das Frauenbild der Mervailler – wartete auf sie doch eine eigene Aufgabe: Marikas Mittelsmann finden. Etwas, was Seher wohl am besten konnten.

Sie folgte dem Weg des Mönches zuvor. Im Garten die Sonne genießend würde kaum jemand Notiz von ihr nehmen oder sie gar verdächtigen.

Kraft des Lichtes der Sonne durchblickte Seraphina die Scheune vor ihr und sah zu den Feldern und dem Hain dahinter. Der Mönch hastete mit einem weiteren Gewand wie dem eigenen zwischen schilfartigen Pflanzen hindurch zu einem Kind, das mit einer Nonne Äpfel, Pflaumen und Nüsse pflückte.

Sera tastete die rauen Steine mit den moosüberzogenen Fugen an der Scheune entlang und inspizierte augenscheinlich die Sale so ähnliche Architektur, während ihre Augen den Mönch fokussierten. In ganz Agartha gab es keine besseren Spione als Seher. Verstanden sie ihr Handwerk, konnte niemand außer einem anderen Seher ihnen ihre Gabe auch nur nachweisen.

Der Mönch hatte die beiden Gestalten am Hain erreicht, gab dem Kind –

Kind?

Die unter der Sonne freiliegenden Haut und Haare waren dunkel, beinahe schwarz – ehe Robe und Kopftuch beides übermalte.

Das also hatte Michel verstimmt. In diesem Kloster verweilte jemand, von dem die Öffentlichkeit nicht erfahren durfte. Derweil nahm die Druidin ihren Korb wieder auf und kletterte wie ein weißes Eichhörnchen zurück in die Baumkronen.

Dass ein Mondpriester aus Mervaille einer Druidin Unterschlupf bot ...

Mit den Sinnen bei ihr ließ Sera sich im kniehohen Gras hinter der provisorischen Kapelle nieder und begrüßte die warme Sonne auf dem Gesicht wie die Abgeschiedenheit vom restlichen Kloster.

Eine der beiden gesuchten Personen hatte sie gefunden. Blieb noch der Spion.

Sie schloss die Augen und lehnte mit dem geflochtenen Zopf als Polster den Kopf gegen die Mauer. Über ihr kreisten Falken und in der Ferne zogen Schwalben. Die Melodie, die Morag spielte, war eine, die auf Freud' und Lieb' abzielte: Davon, Teil des Lands zu sein und davon, Teil des Walds zu bleiben.

Hinter der Druidin und der Nonne standen die Bäume dicht gleich einem Wald – jeder Stamm mit Kärtchen mit dem Zweck versehen. Zwei Dutzend Giganten, als wurden sie darum verschont, zu sehen, wer jetzt hier innewohnt. Selbstgebaute Nester, Futterstellen und Höhlen säumten die Stämme und Astgabelungen. Pilze, Moos und Beeren die Flur.

Nur kein weiterer Mensch inmitten des Hains.

Also spähte sie in den Hauptkomplex – durchsuchte jedes Zimmer, jeden Gang. Nichts. Soldaten in weiß-roten Waffenröcken. Gläubige in schneeweißen Roben. Hatte sich der Spion ebenfalls eine Robe übergeworfen?

Und doch wieder dieses Gefühl, nicht allein zu sein. Ein anderes als in Tjelvars Nähe, aber stetig näher –

»Hi. Geht's dir gut?«, erklang eine Kinderstimme vor ihr.

Ihr Hinterkopf knallte gegen die Mauersteine, so heftig zuckte Sera zusammen. Stöhnend rieb sie sich die Stelle.

»Uwah, tut mir leid, tut mir leid! Das wollt ich nicht!« Hände so dunkel wie regennasse Erde fuchtelten wild umher und die Druidin kniete vor ihr ins Gras.

ScherbenweltWhere stories live. Discover now