5. Was für morgen zu geben ist

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Sie schob den schwarz bemalten Bauern ein Feld vor. Sie hätte Tjelvar doch begleiten sollen.

Ihr gegenüber saß Stadtgraf Bastien Boucher und erinnerte an eine Vase: Klein, mit schlankem Hals und fülligem Bauch und dekoriert als wäre sie mehr wert als sie eigentlich war. Er fuhr sich durch den gestutzten, dunkelblonden Kinnbart und setzte seinerseits eine Schachfigur vor. »Ihr sagtet, Eure Mutter entstammte Mervaille. Aus welchem Herzogtum?«

»Aus der Bernsteinküste. Sie hat als untere Kammerdienerin für die Herzogsfamilie gearbeitet.« Eine glatte Lüge. Ihr Mervaillschlehrer hatte viele Jahre dort gelebt. Ihre Mutter hingegen in Beaumont vor den Östlichen Schneefängen. Unter anderen Umständen hätten Lucius und sie eines Tages zu den Regenten Mervailles gehören können. »Und Ihr, Stadtgraf? Meinem Kenntnisstand nach besitzt die Familie Boucher einen Landstrich im Blutwald vor dem Duthchal-Wald.« Seraphina nutzte ihren Springer.

»Stimmt. Auf Befehl des Königs ist mein Vater dem Heer nach Norden an die Front gefolgt. Mich hat König Philippe herbeordert, nachdem der Kommandant es nicht geschafft hat, hier für Ordnung zu sorgen.« Mit den Fingernägeln tippte auf den spiegelglatten Besprechungstisch in seinem weiß verputzten Arbeitszimmer mit rotem Teppich, rot-orangenen Vorhängen und Eichenholzmöbeln. »Besitzt Ihr einen Nachnamen, Füchsin?«

»Nein.« Selbstverständlich. »Mein Vater hat sich als ausländischer Kaufmann in Speranx verdingt. Damit erlangt man zwar Geld, aber keinen Nachnamen.« Entspannt bleiben! Sie sollte aufpassen, dass ihr Lügenkonstrukt nicht zusammenbrach. Jetzt bei Tjelvar und Nolann zu sitzen und einen kleinen Trupp zum Kloster vorzubereiten, wäre viel entspannter.

»Hm ...« Bastien fixierte das schwarz-weiße Schachbrett zwischen ihnen. »Wo seid Ihr aufgewachsen?«

Nicht den Kopf heben! Wie selbstverständlich weiter auf die Figuren starren! »Zwischen Lumista und Speranx. Wir sind viel im Handelsdreieck gereist.«

»Das erklärt Euren lumistrischen Akzent und Eure hohe sprachliche Bildung. Wie kommt es, dass neuerdings ein Lehrling die Universität vertritt?«

Langsam atmen. Er las sie wie ein Buch. »Der Universitätsleiter Xanthos hat mich Professor Galdur meiner Leistungen wegen empfohlen. Über die Etablierung von Recht und Ordnung werde ich noch nicht so viel wissen wie Ihr, der Ihr nahe dem Duthchal-Wald sicher reichlich Erfahrung gesammelt habt. Umso mehr vertraue ich darauf, von Euch lernen zu können.« Sera lächelte ihr naivstes Lächeln und nahm den kalten Springer zur Hand.

Kaum merklich presste Bastien die Lippen zusammen und zog seine Finger in eine lose Faust. Er mochte ein halbes Dutzend mehr Jahre zählen, doch sie war von klein auf von den Besten der Besten in Lumista unterrichtet worden. Das Himmelsrad zu drehen, war ihr ein Leichtes.

Der Stadtgraf mied ihren Blick – konzentrierte sich wieder auf seine Figuren. »Sagt dem Kommandanten, dass er die Politik besser den Fachleuten überlässt und sich aus meinen Angelegenheiten heraushält. Dann zeige ich Euch, wie wir dieses Drecksloch in wenigen Wochen unterjocht haben.«

Die Haut prickelte ihr Rückgrat hinab und Sera schluckte.

Bastien und Nolann blockierten sich in ihren Maßnahmen gegenseitig: Oblag die Befehlsgewalt über die Soldaten wie Stadtwache doch dem Kommandanten, während Politik, Rechtsprechung und Wirtschaft dem Stadtgrafen zufielen.

»Eure Bedenken sind mehr als verständlich, Stadtgraf. Auch ich habe die unfreundliche Natur der Moragi gestern bezeugen müssen. Dennoch bin ich als Füchsin von Xandria an meine Neutralität gebunden.«

Bastiens nachtblaue Augen stachen in ihre schokoladenfarbenen und er reckte das Kinn. »Es wundert nicht, dass König Philippe unsere Kooperation vor dreiundzwanzig Jahren aufgekündigt hat. Morag hat den Krieg verloren. Elk ist in unserem Besitz und die Steppen und Berge werden bald folgen. Eure Lappalie der Neutralität ist unangemessen. Ihr seid nicht hier, um einen gleichwertigen Frieden aufzubauen, sondern den Barbaren unsere Regeln beizubringen. Dann dürfen sie leben.«

ScherbenweltWhere stories live. Discover now