16. Der Fluch der Mutter

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Wieder krachte sie durchs Unterholz. Wieder stolperte sie, als Dornen sich in ihr Kleid bohrten. Wieder verknoteten sich Strähnen aus ihrem Haar in tief hängenden Ästen.

Wenn sie aus diesem Wald wieder herauskam, kürzte sie ihr Kleid mindestens auf Kniehöhe – falls die Dornen es nicht vorher schon stutzten. Und sie würde essen. Und schlafen. Hätte sie etwas im Magen, strauchelte sie jetzt sicher nicht so verloren zurück.

Essen.

Was hatten die Rebellen alles vergiftet? Einen Sack Getreide, zwei, drei – die gesamte Ernte? Was blieb ihnen, sobald sie alles Schädliche aussortiert hatten?

Wer außer Marika hatte die schwarz-violetten Körner noch bemerkt und gewusst, wozu sie dienen konnten?

Zwischen den Bäumen blitzte das Licht des freien Himmels auf und Sera blieb stehen. Rufe schallten über die Flussmündung. Ungeordnet und entschlossen. Einer davon lauter und klarer – kommandierend.

»Schuss! Wechsel! Laden!«, donnerte Nolann, dass es Sera in Mark und Bein vibrierte. Wie die Stimme ihres Vaters damals überm Schlachtfeld.

Der Widerstand griff an.

Konnten die Mervailler Sale verteidigen? Waren die Tore wieder stabil genug? Hatten die Rebellen Schiffe?

Hatten sie Unterstützung innerhalb der Stadtmauern?

Sera schüttelte den Kopf und umklammerte Johannas Bernstein. Dieses Mal war sie eine fähigere Seherin. Dieses Mal konnte sich verstecken und bei Tage vielleicht auch zwei, drei weitere Personen.

Dieses Mal scheiterte sie nicht!

Das sie umgebende Tageslicht absorbierend sprintete Seraphina aus dem Wald über die brachliegenden Felder.

Tatsächlich hielten die Mervailler stand. Eine Gruppe Armbrustschützen schoss, während die zweite nachlud. Vor ihnen – direkt an den Zinnen – verteidigten Fußsoldaten die Schützen.

Das Knistern der Strohhalme erstickte, ehe es überhaupt erklang; füllte ihre Energiereserven nur weiter. Ihr Schatten, ihre Fußspuren – ihr ganzer Körper – schwand zu Erde, Stroh und Fluss. Die Druiden waren die Einzigen, die jetzt noch einen Lebensquell auf sich zukommen spüren könnten. Für jeden sonst existierte sie nicht mehr.

Ein halbes Dutzend stieß mit einem Rammbock gegen das Haupttor. Andere versuchten, die Mauer mit Leitern zu erklimmen oder auf die Schützen zu zielen. Aber ohne Schilde fielen die Moragi in Wellen, wann immer Kommandant Nolann zum Schuss ausrief. Den einzigen Vorteil, den sie nutzen konnten, war ihre Masse.

Zwanzig Soldaten gegen vielleicht einhundert Rebellen.

Sie lief zwischen den Weidezäunen entlang.

Unzureichend ausgebaute Verteidigungsanlagen. Soldaten in schlechter Verfassung. Niemals genügend Bolzen. Und einen miserablen Stand in der örtlichen Bevölkerung.

Warum griffen die Moragi überhaupt das besser geschützte Tor an?

Seraphina suchte die weißen und gelben Sträucher neben dem Stall ab, noch bevor sie die letzte Weide passiert hatte. Das Loch war flach. Sie würde nicht einmal auf Knien hindurchkriechen können.

Oder stellte das Haupttor nur eine Ablenkung dar, um das Nebentor leichter zu brechen? Sollten die Moragi in der Stadt die Tore von innen öffnen?

Vor den brusthohen Büschen stoppte sie und stützte die Hände auf die Oberschenkel. Ein paar Atemzüge nur, ehe sie zwischen den süß-bitter riechenden Sträuchern kniete. Lautlos schob sie die stechenden Zweige beiseite und tastete sich mit den Händen voran zur Mauer. 

ScherbenweltWhere stories live. Discover now