22. Die Maske der Seherin

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»Dass du auch ja vorsichtig bist.« Olga führte sie zum Hintereingang des Steinschlags.

»Das werde ich. Hab vielen Dank für deine Unterstützung.« Seraphina wusste, was sie tat – schließlich war dies nicht ihre erste Spionage und schon ohne weiteres Zutun sah sie aus wie ein zierlicher Moragi. Mit einem finalen Feinschliff würden auch die verbliebenen Rundungen ihres Gesichts verschwinden.

Und doch hämmerte ihr Herz ihr bis in den Hals, dass es ihr den Atem abschnürte. Als ob irgendetwas sie drängen wollte, besser hier zu bleiben.

Olga nickte. Wirklich überzeugt wirkte sie nicht, aber ihr ging es um etwas Wichtigeres – jemanden wichtigeres. »Geh die Straße nach Südosten, dann an der Kreuzung nach Nordosten. Bis heute Abend hast du das Gehöft erreicht, von dem aus du morgen zum Steinbruch kommst. Ich halte hier für dich Stellung.«

»Gut.« Sera zog einen Beutel aus ihrer neuen Tasche und gab ihn der Moragi. Ihre Lebensversicherung und ihr wichtigstes Andenken: Die Fuchsbrosche, der Siegelring und Johannas Kette.

Abgegeben.

So stieg sie in den Schlamm, setzte sich die Pelzmütze über ihre hochgebundenen Haare und lächelte. Mit mehr Selbstbewusstsein, als sie tatsächlich empfand. Die nächsten Tage war sie auf sich gestellt. Niemand, der ihr helfen könnte, wenn sie scheiterte. »Ich werde Feliks finden und dir vom Arbeitslager berichten.«

Die Sorge in Olgas Zügen blieb – ob nun wegen Sera oder ihrem Lebensgefährten. »Die Wurzeln der Lilie reichen durch den ganzen Wald. Viel Glück!«

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Der weiche, blubbernde Untergrund war das Schlimmste. Jeden Schritt versank sie bis zum Knöchel im eisigen Matsch, um sich anschließend wieder freizukämpfen. Wenigstens musste niemand sie dabei beobachten. Sobald Olga die Tür geschlossen hatte, existierte Sera für die Öffentlichkeit nicht mehr.

Die einzigen, die sie umgehen musste, waren die Druiden. Wie weit auch immer sie Leben spüren konnten, keiner von ihnen folgte ihr.

Erst als sie den Waldrand im Süden erreichte, gewann der Boden an Stabilität und ihr Staksen an Eleganz. Wölkchen stiegen vor ihrem Gesicht empor. Kälte stach in ihren Brustkorb, kribbelte an ihrer Nasenspitze und in ihren Fingern.

Um sie herum war der Wald still. Die Vögel hatte es nach Süden gezogen. Vielleicht nach Speranx, wo Anthelia fleißig Pflanzen züchtete und Studien über den Ackerbau analysierte. Die kleinen Tiere hatten sich in ihre Nester und Höhlen gekuschelt und verschliefen den Winter einfach; ließen die großen den Wald kahlfressen, bis der Frühling nahte.

Sera klemmte die eisigen Hände unter die Achselbeugen und schlich weiter. Irgendwo zwischen Verdammnis und Heroik lag ihr Ziel und erst in einer Woche, wenn sie wieder bei Olga sein musste, wusste sie, welche Gabelung sie gewählt hatte.

Der Erste Stern leuchtete bereits, als sie das Gehöft erreichte. Notgedrungen begnügte Sera sich mit einem Platz im Stroh neben säckeweise Körnern und Nüssen und einem erdegefüllten Hochbeet. Hungern musste sie wahrlich nicht – nur frieren.

Als sie sich Speranx' gesamten Untergrund zum Feind gemacht hatte, hatten die Hitze und der Traubensaft im Wirtshaus ihr in der Lunge gebrannt. Aber wenigstens war es damals nur eine Nacht gewesen.

Jetzt brach schon der nächste Tag an. Die Sonne ließ das Morgenrot lange warten und als sie endlich aufging, zitterte jeder von Seras Muskeln. Warum hatte sie auch bis kurz vor Wintereinbruch gewartet, statt das Ende des Sommers für diesen Wahnsinn zu nutzen?

Ihr immer wieder in die Vogelperspektive schweifender Blick führte sie direkt ins Verderben. Von Weitem schon ragte die abgebrochene Felskante hinter den Baumleichen auf und überragte das Ufer der angrenzenden Savage. Darunter lag das Arbeitslager: mehr eine Befestigungsanlage denn ein Steinbruch. Zwei hölzerne Mauern kesselten erst den Arbeitsbereich, anschließend vielleicht den Wohnbereich der Mervailler und den Abfertigungshof für die Steine ein.

ScherbenweltWhere stories live. Discover now