4. Willkommen in Sale

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Gefoltert und misshandelt lag das gefallene Morag auf der anderen Seite des Flusses. Der Landstrich vor ihnen – seiner dichten Wälder wegen als Grüner Gürtel bekannt – war zerfurcht und die Leichen der dicken Bäume am noch bemoosten Wegesrand gestapelt. Wie ein Trichter wurde die Schneise schmaler, je weiter Tjelvar und Sera ihr und dem Trupp in den Wald folgten.

Unter den Hufen ihrer Pferde brachen bei jedem Schritt Äste, knisterten Blätter, Nadeln oder Zapfen. Feuerrot stachen zerplatzte Beeren aus dem Gehölz hervor und ein modriger Holzgeruch hatte sich in der Windstille verfangen. Auch hier war der Gesang der Vögel verstummt.

Für Mervaille war der Grüne Gürtel eine Schatzkammer mit bitterem Beigeschmack. Das Holz der Bäume war robust und flexibel, doch der Wald wehrte sich genau wie jener im Süden. Die Rekruten des Zweiten Prinzen kannten die Gefahren von Wäldern nicht mehr. Giftige Pflanzen und wilde Tiere waren für sie nur noch Märchen.

Einer der Kavalleristen aus dem Blutwald hielt diese Wälder dennoch für friedlicher als die der Druiden: Hier existierten keine Schlingpflanzen, keine unheilbaren Krankheiten und vor allem keine Panthera – die Schrecken ganzer Bataillone. Die gefährlichsten Tiere hier waren Wildschweine, wie das, was gerade im Nachtlager vor den Zelten über dem Feuer briet.

Nach zwei Tagen marschierte der Trupp weiter gen Norden und Tjelvar und sie verabschiedeten sich – ritten nach Nordwesten. Ihr Ziel lag im nördlichen Teil des Grünen Gürtels, nicht an der Front in den Steppen vor den Bergen.

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Das Kloster des Mondgottes im Lehen Sale zur nächtlichen Rast zu nutzen, war der letzte Rat der Logistiker. Auf einem Hügel thronend, würden nicht einmal die Rebellen einen Angriff wagen.

Wie ein Leuchtfeuer ragten die weißen Mauern unter den Rankpflanzen und über den Laub- wie Nadelbäumen empor. Der örtliche Priester Michel – der bestimmt schon siebzig Sommer gesehen hatte – fuhr sich mit großen, wachen Augen durch den lockigen Vollbart, bot ihnen aber sofort ein Nachtlager. Sein Gewand – sogar noch weißer als seine letzten Wölkchen Haare hinter seinen Ohren – wehte lautlos über die Schieferplatten im Gebäude, als er sie durch die Gänge führte. Lediglich sein rotes Gürtelband raschelte im Takt seiner Schritte.

»Ich war überrascht, dass König Philippe das Hilfegesuch eines kleinen Lehens bewilligt hat. Noch mehr, dass Xandria dem Ruf gefolgt ist.« Der Priester öffnete die Türen vor ihnen und der Duft von Kräutern und Bienenwachs erfüllte die Luft.

»Solange wir das nötige Personal haben, helfen wir jedem, der uns darum bittet. Selbstredend ausschließlich, um Frieden aufzubauen oder zu erhalten«, sagte Tjelvar und überließ Sera den Vortritt.

Sie betrat den Speisesaal. An einer langen Tafel saßen ein Dutzend Mönche und Nonnen und aßen graubraune Klöße mit weißen bis gelben Gemüsestiften. Kurz sahen sie auf und nickten zur Begrüßung.

»Ihr werdet hungrig sein, weitgereiste Füchse. Nehmt Platz, bedient Euch und lasst Euch nicht von den fremden Gerichten verunsichern. Dieses Kloster stand vor dem Krieg unter dem Schutz der Mutter.« Michel wies auf die freien Plätze vor der durch die Kerzenständer orange erleuchteten Steinwand.

Sera entspannte sich. Er war unwissentlich großzügig: Ohne Tageslicht brauchte sie eine andere Quelle in der Nähe, um ihre Tarnung durch ihre Gabe aufrechtzuerhalten. Auch wenn sie dieses Licht nur sparsam aufnehmen durfte, um unauffällig zu bleiben.

»Habt vielen Dank, Priester.« Sie faltete die Hände und schloss die Augen, ehe sie sich setzte und ihre eigenen Klöße begutachtete.

Erst nach der Kurzen Mondmesse verließ Sera die zur Kirche umfunktionierte, ovale Lagerhalle und trat in den Klosterhof hinaus. So neugierig sie auf Michels Berichte über ihr zukünftiges Einsatzgebiet war, so sehr pochten ihre Schläfen vor Anstrengung, ihre Gabe von morgens bis abends zu nutzen.

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