15. Der Segen der Mutter

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Ein Wald.

Von allen möglichen Orten musste Alistairs Versteck in einem Wald liegen. Von allen möglichen Zeiten, es aufzusuchen, musste es während eines drohenden Angriffs sein.

Damals kauerte sie zwischen Brennnesseln – hatte die Hände auf die Ohren gepresst, bis sie die Todesschreie nicht mehr hörte.

»Was ist?« Tjelvar stand ein gutes Stück vor ihr im Wald.

»N-nichts.« Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen. Ließ die Sonne zurück und betrat den Pfad in die Schatten. Zur Einladung brach ein Ast unter ihren Stiefeln. »Womit kämpfst du, wenn sie angreifen?«

Mehr als ein dutzend Meter vor ihr sprang er bereits über den zweiten herumliegenden Baumstamm. »Wenn es sein muss, mit den Krallen des Phönix. Komm jetzt.«

Sie blieb stehen.

»Den Krallen des –?« Etwas riss sie in die Höhe und nach vorn zu Tjelvar. Einen Moment später fiel sie bäuchlings auf Moos, Pilze und Geäst. »Was zur –?«

»Wir haben keine Zeit für diesen Quatsch!« Er zog sie am Arm wieder auf die Beine und tiefer in den Wald.

Sie stolperte über die Wurzeln, aber Tjelvar schleifte sie weiter und brach ihr fast den Knochen aus der Schulter. »Lass mich los, du tust mir weh!«

»Sagt die, deren einziger Nutzen ihre Augen sind.« Aber wenigstens ließ er von ihrem Arm ab, dass sie zwei Schritte vorwärts taumelte.

Keuchend sah Sera ihn an. Blut funkelte in seinen Augen. Blut strömte seinen Rücken hinab.

Blut bedeckte die einst goldene Sonne.

»Such endlich!«

Sie schluckte. Suchen? Wonach?

Ihre Sicht flog durch Baumstämme. Durch Farne, Felsen und über Gruben. Blätter verschmolzen zu grünen und vereinzelt orangen Farbtupfern, aber da war nichts!

»Da ist nichts! Ich sehe nichts!«

Zwei Arme rissen sie vom Boden und trugen sie horizontal, während sie weiterpreschten. Blind kreischte sie und griff nach dem Ersten, was sie fand. Tjelvars Kragen? »Ein Bach, ein Gebück, eine freie Fläche. Irgendwas!«

Ihr Herz raste. Wie sollte sie denn –?

Aus der Vogelperspektive! 

Baumkronen. Zankende Vögel. Ein grauer Farbverlauf zwischen dem Grün.

Ein gelb leuchtender Punkt auf einer Lichtung.

»Feuer! Westnordwest. Vielleicht zwei Kilometer.«

Tjelvar änderte abrupt die Richtung und Sera knallte mit der Stirn gegen seinen Kiefer. Mit einer Hand hielt sie sich stöhnend die Stelle, während die andere seinen Kragen umso fester packte. Wie sie es hasste, nichts zu sehen!

»Versuch, näher ans Feuer zu kommen. Ich bringe uns dorthin«, dröhnte seine tiefe Stimme neben ihren Ohren. 

Noch näher? Sie biss die Zähne zusammen und zwang ihren Blick von vorn näher ans Geschehen. 

Grüne Schatten waberten vor einem nussfarbenen. Ein schmerzhaft helles Licht zwischen ihnen. Vor dem Feuer eine dunkle Gestalt, die etwas hineinwarf. Dahinter weitere Menschen. Oder Panthera.

»Zu groß für ein Lagerfeuer. Zelte und Ausrüstung fehlen. Zu wenige Menschen für eine Kampfeinheit, aber sie verbrennen etwas.« Und ihr hämmerten mittlerweile auch die Schläfen.

»Das könnten sie sein. Gute Arbeit.«

Sera löste ihre Gabe und blinzelte. Ihre Augen schmerzten, als sie Tjelvar und die vorbeifliegende Umgebung sah. Alles scharf, als hätte jemand mit einem Rasiermesser gezeichnet.

ScherbenweltWhere stories live. Discover now