8. Die Grundlage für Vielfalt

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»Die häufigste Ursache für Konflikte ist ein fehlendes Verständnis der Konfliktparteien füreinander. Als Friedenswahrer ist es eure Aufgabe, die Basis für einen offenen Dialog wiederherzustellen. Dafür ist es vonnöten, das Vertrauen aller Konfliktparteien zu gewinnen und ihre Sicht auf das zugrunde liegende Problem zu erfahren.«

Dieses Lehrbuch war älter als ihre Blutlinie und dennoch eine zeitlose Fachliteratur.

Tjelvar und sie begleiteten den holpernden Wagen mit den rationierten Lebensmitteln für die nächsten Tage bis zum Hafenplatz. Dort sprang Seraphina ab und nahm ihren Beutel Lebensmittel für Marika mit. Auf den Galgen – neben dem der Wagen schließlich stehen sollte – konnte sie getrost verzichten. Sie wünschte Tjelvar noch eine ereignislose Reise zum Kloster, wo er mit ihrem Bruder und Saoirse hoffentlich passendes Saatgut für die Felder erhielt.

Den viel zu leeren Leinenbeutel über der Schulter schlenderte sie ins Druidenviertel. Ihre nächste Aufgabe bestand darin, Marika wiederzufinden und Sale mit ihr auf die Neubewirtschaftung der Felder vorzubereiten.

Ein schwarzhaariger Jüngling hatte ihr und dem Wagen schon bei ihrer Ankunft nachgespäht: Kniete in einem Kräutergarten zwischen den Rundhäusern und linste immer wieder hoch.

»Guten Morgen. Kannst du mir sagen, wo ich Marika finde?« Sie sollte höflich bleiben – auch wenn er sie nicht verstand und sie sich vorsehen musste.

Rehbraune Augen über einer langen, spitzen Nase musterten sie.

Standhaft bleiben. Sie schluckte ihren Unmut herunter. Vor einem halben Kind knickte sie nicht ein. »Marika«, betonte sie die einzelnen Silben.

Der Moragi erhob sich und zwang sie, den Kopf in den Nacken zu legen. Wie sein Blick erst ihr Gesicht, dann ihre Hände und den Beutel durchbohrte ...

Sie wagte nicht, sich zu regen.

Dann kehrte er ihr den Rücken zu und wanderte ins Viertel.

Er blieb stehen und sah noch einmal zurück. War dieses Zucken mit der rechten Hand ein Wink, ihm zu folgen?

Was hatte sie schon zu verlieren? Das Druidenviertel war klein genug, Marika nötigenfalls selbst zu finden. Und mit diesen Menschen hatte Lucius zusammengelebt?

Sera schlich dem jungen Mann mit zwei Metern Sicherheitsabstand nach. Wie ein Jäger pirschte er an den eingerissenen und gebrandmarkten Häusern vorbei wie auf seine potenzielle Beute zu.

Oder auf sie, wie ihr ein Schauer den Rücken hinunterkroch.

Am letzten Rundhaus vor der Stadtmauer stieg er die Stufen zur Tür hinauf. Ein riesiges, schwarzes Kreuz begrüßte sie. Asche und tote Erde beendeten die Geschichte vom freien Morag.

Der Mann klopfte und drei Atemzüge später öffnete Marika die Tür. In der kantigen Sprache raunte sie zum Schleicher.

»Was gibt's Neues, Mädchen?« Die Moragi verschränkte die Arme und bedachte sie von drei Stufen herab. Schatten weilten unter ihren kohleschwarzen Augen. Knochen unter ihren weiten Ärmeln.

Wie lange hatte Bastien die Versorgung in der Stadt eingeschränkt?

Seraphina hob den Leinenbeutel. »Wir haben neue Vorräte aus dem Kloster erhalten und den Stadtgrafen überredet, mit euch zu teilen. Sie sind zwar auch rationiert, aber jeder kann sich seinen Teil auf dem Marktplatz abholen. Deinen habe ich hier. Kannst du das und meinen Dank dem jungen Mann ausrichten?«

Er lauschte. Wollte er allein aus dem Klang ihrer Worte ihre Bedeutung heraushören?

»Zeig her.« Marika streckte die sehnige Hand aus und Sera gab ihr den Beutel. Viel war es nicht: Überwiegend Druidentrüffel und Pinselgras, eine Handvoll Nüsse und ein Stück Käse. Doch die Züge der Moragi entspannten sich und ihre Schultern sanken.

ScherbenweltWhere stories live. Discover now