14. Die Ruhe vor dem Sturm

44 7 110
                                    

Ein riesiger Steinhaufen zierte das Grab vor dem Wald.

Ein breiter, überwucherter Weg, bemooste Steinmauern und zu den Seiten jeweils ein Feld führten von Sera und Tjelvar an der Kreuzung zum eingefallenen Bauernhof. Zu ihrer Linken kaute ein halbes Dutzend Rinder auf Blättern, die vom Weizen hätten stammen können – nur größer. Rechts von ihnen wuchsen Wildpflanzen in unterschiedlichen Höhen, Farben und Blüten, als hätte ein Maler mit süßer Hoigfarbe und auf einer frischen Grasleinwand ein expressionistisches Stimmungsbild seines Lebens geschaffen. Es musste ein turbulentes gewesen sein.

Der Chor der Grillen unter dem Gesang summender Hummeln kontrastierte das visuelle Kunstwerk und gab einen entspannten Takt zum Tanz der Schmetterlinge in ihren buntesten Gewändern vor. Pollen schwebten mit der leichten Brise, kitzelten Seras Wangen und trugen einen süßen Duft mit sich.

Die späte Nachmittagssonne schien ihr in den Nacken und ließ ihren Schatten vorausziehen. Ihr zusammengeflochtenes Haar streifte bei den letzten Schritten ihres Pferdes über die Schulterblätter.

Neben ihr trug Tjelvar seine Haare offen wie eine blutende Wunde im Rücken. Ein paar Strähnen hatte er sich aus dem Gesicht gestrichen, um die Karte in seinen Händen lesen zu können, die Alistair ihnen zugeschoben hatte. »Wir sind da. Füchsin?«

Sera knetete ihre Zügel. Was hatte sie falsch gemacht, als er sie ermutigen wollte? Sie hob den Blick zu den Trümmern des einstigen Hofes und sah.

Zwei miteinander verschmolzene Rundungen mit zwei Stockwerken bildeten die Front des Gebäudekomplexes. Einige der Schieferplatten auf dem Dach und auch Steine aus dem Mauerwerk fehlten – lagen zersplittert vor dem Haus. An einer Stelle war das Loch in der Wand so groß, dass der Dachstuhl dort nachgegeben hatte.

Die Haustür lag auf der Schwelle und war mit Dreck und Ruß bedeckt. Sera schärfte ihre Augen weiter – hoffte darauf, dass Tjelvar ihr direktes Umfeld für sie beobachtete.

Im Innern des Bauernhauses hingen die Trägerbalken schief und ein Teil des Obergeschosses war ins Erdgeschoss gestürzt. Gebrochene Bretter, zersprungene Steine, Staub und Tonscherben lagen auf dem Steinboden. Eine Tür klammerte sich mit letzter Kraft an die untere Angel, die obere bereits herausgerissen.

Der Raum, in den sie führte, musste Küche und Stube zugleich gewesen sein. Die Feuerstelle in der Mitte war niedriger als bei Marika, hatte dafür einen Durchmesser von mindestens zwei Metern – wenn man von den entferntesten der Einzelteile aus maß. Die gusseiserne Kette für den Kessel baumelte in einer ähnlichen Höhe wie bei einer intakten Kochstelle – jetzt weit von den Überresten des aufgewühlten Kohlebeckens entfernt. Der zugehörige Kessel lag vor Leere gähnend am Rand des Raums zwischen einem zerschlagenen Tisch.

Was einst der Lagerraum für Saatgut und Ernte gewesen war, glich nun einer verlassenen Höhle. Nur ein paar zurückgelassene Körner hatten sich in den Fugen verirrt und warteten auf die Erlösung ihrer Einsamkeit. Der Geräteschuppen nebenan war ein geplündertes Schlachtfeld, das lediglich krumme Haken und rostige Nägel überlebt hatten. Auf dem Hinterhof beendete ein verkohlter Fleck die Geschichte der Menschen, die hier gelebt hatten.

»Im Hof ist niemand, aber es gibt ein paar Orte, die wir untersuchen sollten«, sagte Sera und schloss ihre Augen. Noch vor einem Monat hätte sie auf diese Distanz mit zeitgleicher Tarnung lediglich unscharfe Bilder gesehen.

»Gut.« Tjelvar trieb sein Pferd den Weg zum Bauernhof hinauf und band es dort fest.

Ihr blieb nichts anderes, als seufzend zu folgen. Und auf ihrer Hinreise nach Morag war Tjelvar ihr noch zu schweigsam? Diese Atmosphäre war weit bedrückender.

Neben dem eingetretenen Eingang blieb Tjelvar stehen und bedeutete ihr, voranzugehen.

Holz- und Steinstückchen knirschten unter ihren Stiefeln und sie bückte sich unter einem eingestürzten Trägerbalken hinweg. Die Staubschicht auf dem Boden bestand aus Holzspänen und Steinchen, vermischt mit trockener Erde. Letzteres in regelmäßigen Abständen im Staub.

ScherbenweltWhere stories live. Discover now