9. Gestern Feinde, bald schon Freunde?

65 8 96
                                    

An diesem Morgen rollte ein offener Wagen auf die Stadtmauern zu. Schwer bewaffnete Soldaten ritten rings um das Fuhrwerk und Kommandant Nolann empfing den Vordersten mit einem Teil der Stadtwache. Glänzende Brustplatten und weiß-rote Waffenröcke klapperten in nahtloser Formation näher.

Sera war von der Burg geeilt und drängte sich durch die skeptische Masse zu Marika, die sich gerade von den mervaillschen Feldern zu ihr – vor Stojan und das reparierte Tor – durchkämpfte. Ein letzter Eisenbeschlag lag noch vor dem Riesen, der schon Sera vor zwei Wochen am Tor auf die freundlichste Art in Sale willkommen geheißen hatte. So, wie er mit den Zähnen mahlte, als er den Wagen und die Soldaten fixierte, sollte er gar nicht auf freiem Fuße sein.

Marika schien unbeeindruckt von dem Muskelpaket – schob sich gar vor ihn, um besser sehen zu können. »Sind sie es?«

»Ja. Hoffentlich sind sie in einer Verfassung, in der sie uns helfen können.« Sera musste nicht raten oder sich in die erste Reihe quetschen, um die kindlichen Gestalten auf der Ladefläche des Wagens kauern zu sehen. Dennoch ballte sie die Hände zu Fäusten bei der Kulisse, die sich ihr bot.

In Decken gewickelt wandten sie sich der Stadt zu: Ausgemergelt und blass – viel zu blass für Druiden. Hatten die Soldaten ihnen Blut abgenommen? Gehörte Nolann etwa zu denen, die den Lebensmarkt mit violetten Ampullen belieferten und sich dafür bezahlen ließen?

»Wo werden sie bleiben? Die Armee hat ihre Häuser bis auf die Grundmauern abgerissen.« Marika ignorierte das vibrierende Brummen hinter ihr. Warf Stojan nur einen genervten Blick zu.

Wohingegen Sera schnell von ihm wegwich. »Erst einmal bringen wir sie wie vereinbart zum Festplatz, damit wir mit dem Roden beginnen können. Danach wird der Stadtgraf auf seiner Burg für sie sorgen. Dort können wir sie schützen und überwachen.«

»Auf der Burg? Das ist das Schlimmste, was ihr ihnen antun könnt! Der verrückte Stadtgraf wird sie als Geiseln nutzen und hinrichten lassen, sobald wir geerntet haben!«

»Wird er nicht.« Sie blickte Marika in die tiefen Augen, bis die Moragi sich abwandte. Bastien wusste, was er tat.

Unter leisem Gemurmel ratterte der Wagen an der Kaserne vorbei – nun mit Kommandant Nolann in Führung und begleitet von einem deutlich jüngeren Soldaten mit der leicht gebräunten Haut eines Südmervaillers. Dann zog der Tross durchs Tor und die Hauptstraße entlang, wo Marika, Sera und viele weitere misstrauische Moragi ihm folgten.

Hinter ihnen ertönte die tiefe Stimme und Marika drehte sich zu Stojan zurück.

»Sag mal, Füchsin. Das sind fünf Druiden. Sind das alle?«

»Scheibt so ...« Ihre Hände wurden schwitzig. Verglichen mit den Dutzenden, die hier einst gelebt haben mussten, waren fünf überlebende Druiden eine wahrhaft traurige Menge.

In der rauen Sprache wandte Marika sich wieder an Stojan, der Sera daraufhin anfunkelte und ihr etwas entgegenknurrte.

»Stojan hofft für dich, dass die Mervailler wenigstens die letzten Fünf leben lassen.«

Sie spähte zum Riesen mit dem breiten Kiefer unter dem ungepflegten, braunen Vollbart und dem vor der Brust spannenden Leinenhemd. Schluckte. »Das hoffe ich auch.«

Den schmalen Weg zum Festplatz lösten sich die Pferde von den Flanken des Wagens, trotteten mit etwas Abstand hinterher und behinderten besonders Eilige, bis die Schutzformation auf dem Platz wiederhergestellt war.

Hier schwang der Südmervailler die Rückklappe herunter und blickte Nolann unsicher an. Der Kommandant nickte ihm zu und der junge Soldat in zweiter Rangordnung sprang auf die Transportfläche.

ScherbenweltWhere stories live. Discover now