1. Tochter der Gestirne

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Jahr 1.074 nach der Langen Nacht; Speranx, Dasotrada

Der Mond heute Nacht war dunkel. Ein böses Omen.

Denn draußen kamen die Schritte näher.

Sera senkte den schweren Eisenring, an dem einer der bitteren Futterstäbe für die summenden Leuchtkäfer hing. Einen Teil ihres grünen Lichtes absorbierte sie und nutzte ihre Energie, um mit ihrer Sehergabe durch die unverputzte Steinwand zu spähen.

Draußen lehnte eine hochgewachsene, schlanke Silhouette wie eine schiefe Kerze an einem weiteren Haus mit bröckelnder Fassade. Daneben im Gässchen und in den Schatten weiterer Häuser der Straße hockten breit gebaute Gestalten mit Schwertern, Knüppeln und sogar einer Armbrust. Der Stahl funkelte im Leuchtkäfergrün der Tiere um die Futterkolben der Straßensäulen.

»Planänderung, Marlo«, ließ Sera den Zollkommandanten des Hafenviertels telepathisch wissen und blickte wieder in den kahlen Raum mit Moos in den Fugen und knisternden Glasscherben auf dem Boden. Sogleich erstrahlten die Leuchtkäfer wieder in alter Stärke. »Die Spinnenseide war ein Köder, um uns hierher zu locken. Vito wartet schon auf uns.«

»Nicht gut«, flüsterte der alte Kommandant und gab den anderen vier Zollwachen ein Zeichen, die silbrige Spinnenseide doch in den Kisten des Schmugglerverstecks zu belassen. »Und jetzt?«

Seraphina knirschte mit den Zähnen. »Ein offener Kampf wäre sinnlos. Vito ist uns mindestens zwei zu eins überlegen«, teilte sie diesmal allen mit.

Marlo rümpfte die braungebrannte Nase und sein grauer Schnauzbart wanderte unter tiefen Falten zwei Zentimeter in die Höhe. »Dieser Bastard ist mir lieber als eine weitere Ladung Spinnenseide. Was denkt Ihr, Nobilis?«

Die salzig schwüle Luft verklebte ihre Lungen und Seraphina stöhnte so leise wie möglich. Der gesamte Schwarzmarkt von Speranx wusste, dass der Zoll der Metropole sie als Seherin gegen ihn beschäftigte. Vito dürfte sich nicht so leicht austricksen lassen wie die letzten Handlanger des Bandenführers.

Aber sie nickte. Was sie schon zweimal geschafft hatte, bewältigte sie auch ein drittes Mal.

Wenig später schlichen vier der Wachen und Seraphina unter dem Schwappen des Hafenwassers neben den Armengassen durch den Hinterhof des Hauses. Der Vorderste zog das Hoftor Zentimeter für Zentimeter auf und Sera nutzte die Reserven ihrer Sehergabe, um sowohl die Bewegungen des Tors als auch sämtliche Geräusche zu verbergen.

Was ohne das Licht der Leuchtkäfer an ihren Kräften zehrte. Doch die blieben allesamt im Haus bei der Wachfrau, die weiterhin geschäftiges Beschlagnahmen vorspielte.

Der Erste schlüpfte mit geladener Armbrust durch den Spalt.

Sera schloss die Augen. Die Holzverkleidung des Hauses im Rücken und nur auf das Tor und die Tarnung der Wache fokussiert, bis er sein vorgeschriebenes Versteck erreicht hatte. Dort kniete er sich hinter ein paar blechernen Regentonnen und hob seine Armbrust als Deckung für die anderen.

Dann der zweite Armbrustschütze an einer anderen Hausecke.

Vitos Silhouette bewegte sich auf einen seiner Schläger zu, der daraufhin in der Gasse verschwand.

»Du musst die Futterstäbe öfter bewegen und mehr Lärm beim Verstauen machen!«, wies Sera die Frau im Haus an.

Augenblicklich ertönte ein tiefes Kratzen von Holz auf Holz und ein Fluchen, dass sie doch leiser sein sollten.

Ein Knüppelträger schlich von der Seite zu ihrem Holztor. Zwei weitere von der anderen Seite neben die Tür des Gebäudes.

Sera schickte die dritte Wache in die Schatten der Gassen, bis nur noch Marlo und sie im Hinterhof verblieben. Dann schlich auch sie aus dem Hof und damit der Gefahrenzone, ehe sie ein letztes Mal ins Haus der Wachfrau spähte. »Alle sind bereit. Auf dein Signal geht es los.«

ScherbenweltWhere stories live. Discover now