2. Unter dem Segen der Füchsin

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»Vielen Dank.« Sera stopfte ihr cyanblaues Reisekleid in den Rucksack und schnürte ihn zu.

Der Schneider ihres Vertrauens lehnte an einem seiner Regale – prall gefüllt mit Stoffen und einer Note aus Lavendel und Zedernholz. »Und wohin genau haben dich die Winde verschlagen?«

»Nach Norden. Auf Spurensuche nach meiner mütterlichen Familie.« Sie schulterte den nun volleren Rucksack und grinste. »Wer lässt sich schon ein Abenteuer entgehen?«

Vernünftige Menschen.

Der bunt gekleidete Schneider zuckte mit den Achseln. »Ich war nie der Mensch für Abenteuer. Jetzt mit Familie und Kindern noch weniger. Viel Glück bei deiner Suche und pass auf dich auf, Louise.«

Das eine würde sie brauchen, das andere hatte sie bereits verworfen.

Sera deutete eine Verbeugung an und setzte ihren Sonnenhut auf die durch ihre Sehergabe braun gefärbten Haare. »Bis bald.«

Auf gefegtem, hellen Kopfsteinpflaster stakste sie zwischen weißen Steinhäusern – einzig von roten, gelben, blauen Blumenkästen durchbrochen – weiter zum Schustermeister, um ihre Reisestiefel mit demselben verlogenen Lächeln entgegenzunehmen.

Ihr Vater hätte diesen Wahnsinn niemals gebilligt.

Zwischen den bunteren Häusern – auf dunklerem Kopfsteinpflaster und im Gedränge der Menschen – schwang sie ihren Rucksack vor die Brust und verstaute ihren Geldbeutel nah am Körper. Bei all den Dieben, Taschenmessern, Langmessern und ...

Sera sollte wieder anfangen, Schiffsglocken zu zählen.

Der Überseemarkt. Eine maritime Großstadt mit politischer Neutralität und internationaler Anerkennung zu sein, beflügelte die Warenvielfalt immens. Jetzt musste sie nur noch –

»Gefunden, Tagträumerin!«, zwitscherte ihre Freundin und Zimmermitbewohnerin neben ihr. »Diesmal als Louise unterwegs?« Anthelia warf sich eine gebrannte Mandel zwischen die eingeschlagenen Zähne und reichte ihr anschließend die Tüte.

»Oui. So langsam muss ich mir wieder neue Identitäten überlegen. Wartest du schon lange?« Sie trat von einem Fuß auf den anderen und sah kurz nach Anthelias überfülltem Mandelstand auf dem Markt. Trotzdem nahm sie auch eine – extra zimtig wie immer.

»Du bist nicht die Einzige, die was brauchte.« Die heiße Meeresbrise stob Anthelias kinnlange, dunkelbraune Mähne zur Seite und enthüllte das verbrannte Sklavenmal auf ihrer Wange. Mit einem Schlägergrinsen hob sie die Schulter mit ihrer übergeworfenen Tasche. »Also, qu'est-ce qu'il serait: Parakeetgrün oder Cerulean?«

Sera prustete vor Lachen in die Hände. »Bei der Aussprache würde dich da oben wirklich niemand verstehen. Aber nein, ich suche neue Kohlestifte, ein Notizbuch und Wasserfarben.«

»Ist doch egal, wie ich's ausspreche.« Ihre Freundin verdrehte die Augen, warf sich eine letzte Mandel zwischen die Zähne und tauchte vor Sera in den lärmenden Menschenstrom ein.

Wie sie all das hier vermissen würde: Der Barde mit seiner Leier vor der angelaufenen Statue eines der Könige, als Speranx noch eine eigene Nation war. Der Stand mit den Räucherstäbchen nach Sand und Gold vom südlichen Kontinent. Die Orangen und Gewürze aus dem Nachbarland. Echter, schwerer Thalast und geschmeidige Spinnenseide in allen Farben und Mustern, für die selbst der finanzielle Zuschuss ihres Vaters nicht gereicht hätte.

Und eine Freundin, an deren Seite sie sich durchs Gedränge quetschte.

Am frühen Nachmittag stiegen sie und Anthelia die Promenade zu den Klippen neben dem Universitätsgelände hinauf. Bepackt mit Zeichenutensilien, einem Korb mit Erdbeeren, Bananen, Bitterschokolade und Brot; sowie zwei Flaschen Traubensaft.

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