Kapitel 65

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Als ich durch die Gänge ein zweites Mal lief, nahm ich alles anders wahr. Es war nicht mehr der Ort meiner Gefangenschaft, sondern das Zuhause meiner Mutter. Auch wenn es, der Geschichte der Schatten entsprechend, vor hunderten von Jahren gewesen war, lief sie einst durch diese Gänge. Sie war vielleicht nicht auf den Weg gewesen an einen gefährlichen Kampf zwischen den Luftigen und den Schatten teilzunehmen, aber sie war hier gewesen. Meine Mutter war ein Schatten. An diesen Gedanken musste ich mich echt noch gewöhnen.

„Alice? Ich hab kein Schwert für dich, kannst du was anderes nehmen?" Ach ja, der Krieg. „Habt ihr Dolche?" Wegen meiner Statur konnte ich mit zwei kleine Dolche mehr erreichen als mit einem Schwert. Dafür musste ich meinen Gegner aber auch verdammt nah kommen, was nicht gerade einfach war. Ohne eine Antwort zog Matteo zwei Dolche aus seinen Stiefeln, die ich gekonnt auffing. Meine Probleme wurden verdrängt und machten Platz für das, was ich über das letzte Jahr gelernt und perfektioniert hatte. Meinen Kampfinstinkt. Der Schatten mochte vielleicht eine Menge Lügen erzählt haben, aber in einer Sache hatte er Recht gehabt. Ich konnte echt gut kämpfen, was seine Leute schon bald herausfinden würden.

Die Dolche legte ich an meine Handgelenke, damit sie versteckt waren und ich sie in einen guten Moment herausholen konnte. Eine Hand hielt mich aber zurück. Ben sah mich eindringlich an und sorgte dafür, dass wir hinter Matteo liefen, der entschlossen durch die Gänge lief und anscheinend genau wusste, wie wir hier rauskamen. „Alli" ich löste meinen Blick von den Gang und sah ihn an. Sein besorgter Blick traf meinen und ohne das er etwas sagen musste, wusste ich was er dachte. „Ich werde vorsichtig sein" versicherte ich ihn und lächelte leicht. Seine Augen wurden aber nicht weniger Ernst und ich verlor mich fast in dem Blau. „Das hier sind Schatten. Sie haben kein Mitgefühl, zeigen keine Gnade und keine Schwäche" mir überlief einen Schauer bei seinen Worten. Das Training war endgültig vorbei.

„Du musst also stärker sein" ich nickte, denn ich traute meiner Stimme in diesen Moment nicht. „Und wenn du denkst einen Kampf nicht gewinnen zu können, will ich das du keine dummen Sachen machst und abhaust" empört riss ich meine Augen auf. Das stand gegen alles was ich gelernt hatte! Ein Luftigen rannte nicht vor einen Kampf. „Das werde ich nicht tun Ben. Du kannst das nicht von mir verlangen." „Doch, dass kann ich. Ich bin dein Befehlshaber und befehle es dir" geschockt starrte ich ihn an. Er war also wirklich so weit gegangen.

Ich riss meine Hand aus seiner und schnaubte wütend auf. Wir hielten an und Matteo verschwand hinter der nächsten Kurve. Dieses Gespräch hier und jetzt zu führen war nicht gerade schlau, aber ich würde unter diesen Umständen nicht kämpfen. „Wie kannst du es wagen?" Zischte ich leise mit einen Blick nach hinten. „Es ist meine Pflicht als dein Wächter" zischte Ben genau so bestimmt zurück. Doch das konnte er vergessen. „Du bist nicht nur mein Wächter, du bist auch die Person die ich-" Ich unterbrach mich selber, bevor ich etwas Falsches sagen konnte. „Die ich als meinen Freund sehe" das klang schon besser. Für ein gefühlsduseliges Gespräch hatte ich später immer noch genug Zeit. Außerdem war ich mir nicht einmal sicher ob Ben das gleiche für mich fühlte und ich wollte mich nicht zum Affen machen.

„Deswegen sage ich das doch auch!" Er gab es auf zu Flüstern. Ob die Schatten uns nun entdeckten oder nicht, wir waren nicht mehr schwer verletzt oder betäubt. „Bullshit! Wenn du als mein Freund denken würdest, hättest du mir diesen Befehl nie gegeben!" Bens Blick verdunkelte sich als ich meine Aussage mit Gänsefüßchen unterstrich. „Ich möchte doch nur, dass du nicht verletzt wirst" sagte er etwas leiser zurück. Leiser war aber nicht besser, denn dann wurde er nur noch wütender. „Ich bin ein Luftigen, du hast mich nicht trainiert um aufzugeben" meine Worte waren sanfter geworden, denn ich wollte mich eigentlich gar nicht mit ihn streiten.

Ben kam mir näher, fast hätte ich gedacht er wollte mir drohen, doch der Blick in seinen Augen verriet ihn. „Ich weiß" er hatte mich gegen die Wand gedrängt und legte eine Hand an meiner Wange, an die ich mich instinktiv schmiegte. „Aber ich will dich nicht nochmal verlieren" hauchte er so leise, dass ich es fast nicht gehört hatte. Ich konnte ihn plötzlich nachvollziehen. Vorher hatte ich nur an mein Wohlbefinden gedacht und an das schreckliche Gefühl ihn zu verlieren, doch er hatte genau das gleiche durchgemacht. Er muss krank vor Sorgen gewesen sein als er mich im Berg nicht mehr finden konnte, so wie ich zuvor. Eigentlich sogar noch schlimmer, denn ich war tagelang weg gewesen und er hatte mich bei den Schatten gefunden. Ich wollte mir gar nicht vorstellen wie schwer das gewesen sein muss.

LUFTIGEN - becoming a warriorWhere stories live. Discover now