Kapitel 4

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Das ich nicht mehr träumte, bemerkte ich zuerst an die eisige Kälte. Zitternd krümmte ich mich zusammen, um warm zu bleiben, doch es half nicht viel. Das ich nicht mehr in mein Zimmer lag, bemerkte ich zuerst an den nassen Untergrund und die kleinen Sandkörnchen, die über meine bloße Haut schrammten. Dann der kalte Wind, die jede Chance warm zu werden, wegwehte. Ich öffnete meine Augen, sie waren ganz verklebt vom Schlafen. Doch als sich meine Sicht besserte, blinzelte ich verwirrt.

Ein Baum. Eine große Eiche stand direkt vor mir. Ich richtete mich etwas auf, doch meine Glieder fühlten sich immer noch etwas steif an. Desorientiert schaute ich um mich, was mir ziemlich gut gelang, obwohl es mitten in der Nacht war. Ich erkannte diesen Ort nicht, es war keins der Pfade, auf die ich wanderte. Aber eigentlich war ich auch gar nicht auf ein Pfad. Nirgendwo war ein Zeichen, dass hier schon mal ein Mensch gewesen war. Nur Bäume, Moos und gefallene Blätter, so weit, wie man schauen konnte. Etwas wackelig stand ich auf, meine Beine fühlten sich wie Wackelpudding und eine weitere Windböe kam auf. „Hallo?" Rief ich in die Nacht hinein. Meine Schlafsachen waren völlig durchnässt und der Wind wurde auch immer stärker. „Hallo?!" Rief ich jetzt etwas lauter, doch der Wind trug meine Worte weg. Als ein weiterer Schauer mich durchfuhr, lief ich los, wenn mich keiner helfen konnte, musste ich alleine nach Hause kommen. Trotz der Dunkelheit erkannte ich jeden Ast und jedes Blatt vor mir. Sehr helle Nacht heute. Tapfer stapfte ich weiter, als ich plötzlich zurückgezogen wurde. Mein Herz raste vor Angst, doch als ich über meine Schulter blickte, war dort niemand. Ich wollte gerade meinen Weg fortsetzen, als ich etwas in meinen Blickwinkel erkannte. Ich warf einen weiteren Blick über meine Schulter und da sah ich es.

Federn. Weiße und braune Federn versperrten mir die Sicht nach hinten.

Langsam hob ich meine rechte Hand, um sie zu berühren und kniff meine Augen zu. Es ist nur ein Traum. Ich träume noch. Doch dann spürte ich sie. Weicher als alles, was ich jemals gespürt hatte, fühlte ich wie meine eigenen Finger langsam über die Federn strichen. Jetzt griff ich auch mit meiner linken Hand nach hinten und traf auf noch mehr Federn. Vorsichtig hob ich meine Schultern und mit einem lauten Schrei musste ich erkennen, dass sich die Federn mit bewogen. Was passiert hier gerade? Es fühlte sich an, als hätte ich ein weiteres Paar Hände. Ich spürte den Wind, der sanft durch meine Federn strich und ich spürte das Gewicht. Vorsichtig, als würde ich meine Arme ausstrecken, tat ich das gleiche mit den Dingern auf meinen Rücken.

Zwei mächtige Flügel breiteten sich hinter mir aus und ich spürte den Druck vom Wind, als er gegen sie wehte. Langsam hob und senkte ich sie und tatsächlich ertönte ein leichtes Flattergeräusch. Mein Gesicht war voller Panik und meine Sicht verschwamm vor meinen Augen. Nicht schon wieder. Ich schluchzte auf und meine Tränenverteilten sich auf den Waldboden. Ich machte einen Schritt nach vorne. Wohin oder was ich jetzt machen würde, wusste ich nicht. Ich war ein Freak. Es gab keinen Ort, an den ich konnte. Man würde mich finden und auseinander nehmen.

Die Menschheit war nicht gerade bekannt um ihre Akzeptanz gegenüber anderes. Meine Knien gaben unter dem neuen Gewicht nach und ich stürzte auf den nassen, dreckigen Waldboden. Es war Real, dies war kein Albtraum, von den ich bald aufwachen könnte. Ich schlang meine Arme um mich und nur nebenbei bemerkte ich, dass diese Flügel dasselbe taten. Es war fast erschreckend, wie leicht es fiel, mir sie zu bewegen, als wären sie immer schon Teil meines Körpers gewesen und ich hatte es bloß nicht gewusst. Meine Neugier ergriff die Überhand und ich beschloss, meine neuen Gliedmaßen auszuprobieren. Vorsichtig hob und senkte ich die riesigen Dinger und der leichte Druck, der dabei unter sie entstand, ermutigte mich. Ich stellte mich gerader hin und schlug noch heftiger mit den Flügeln.

Eine Windböe kam auf und tatsächlich hob ich mich ein paar Zentimeter vom Boden hoch. Ein Kichern entfloh meinen Mund. Mut ergriff mich und mit der ganzen Kraft, die ich in diesen Flügeln hatte, schlug ich so fest, bis ich nicht nur ein paar Zentimeter, sondern immer höher kam. Ich ächzte vor der Anstrengung jedoch hörte ich nicht auf. Erst nach einer Weile traute ich mich nach unten zu gucken und es brachte mich fast aus dem Gleichgewicht. Ich schwebte bestimmt zehn Meter über den Boden. 

Ein irres Grinsen entfloh mir. Hier oben war es sogar einfacher, weil der Wind stärker wehte. Entschlossen noch weiter zu kommen, strengte ich mich an, bis ich so hoch war, dass ich das Gefühl hatte, zwischen den Wolken zu sein. Ich lehnte meinen Körper leicht nach vorne, presste meine Hände an meinen Körper und drehte mich leicht. Schneller als der Wind schoss ich nach vorne, spürte die kräftigen Muskeln in meinen Flügeln und vertraute darauf, dass sie mich tragen würden. Von Adrenalin gefesselt wurde ich immer schneller und kam immer höher, bis die Luft zu dünn wurde. Etwas wackelig brachte ich die Flügel in eine Segelposition und wurde langsamer. Eine Miniatur-Welt erstreckte sich vor mir und raubte mir den Atem. Hunderte Bäume und kilometerlange Felder lagen im Licht des Mondes.

Dass ich nicht wusste, wo ich war und auch nicht wusste, wie ich wieder nach Hause kommen sollte, war in diesen Moment nebensächlich. Ich war frei. Ich nahm tief Luft und schrie vor Freude, es schien mir nicht möglich, noch glücklicher zu sein als in diesen Moment. Ich schwebte eine Weile herum und ließ mich von Wind hoch und runterwehen als ich in der Ferne plötzlich etwas erkannte. Ein schwarzer Fleck schwebte etwa 20 Meter von mir entfernt mitten in der Luft. Verunsichert verlangsamte ich meinen Flug und beobachtete den schwarzen Fleck neugierig. Jetzt fiel mir auf das es nicht nur schwarz war. Ein helles Licht schwebte direkt neben dem schwarzen Fleck. Ich erhöhte meine Geschwindigkeit, doch der schwarze Fleck auch. Frustriert keuchte ich auf, da es doch anstrengend war, so schnell zu fliegen. Den Gedanken, es einfach aufzugeben, verbannte ich. Ich kam immer näher und näher, konnte schon fast Umrisse erkennen, als der schwarze Fleck plötzlich aufhörte. Da ich nicht damit gerechnet hatte und noch nicht so geübt war im Fliegen, knallte ich mit voller Wucht gegen den Fleck.

Stöhnend rieb ich meinen schmerzenden Kopf, richtete mich ein wenig auf und da sah ich es. Ein Mann, gehüllt in schwarzer Kleidung, war nur ein Meter von mir entfernt. Sein verärgerter und eindeutig wütender Blick begegnete meinen und ich schnappte erschrocken nach Luft. Das Erschreckende war aber nicht sein Blick, sondern die großen schwarzen Flügel hinter ihn. Sie waren bestimmt doppelt so groß wie meine und sie schlugen auch nicht so hektisch wie meine. Bevor jedoch ein Laut aus meinen Mund kommen konnte, fiel mein Blick auf den zwei Meter langen Speer, den er in seiner rechten Hand hielt. Als ich gerade realisierte, dass der merkwürdige Flügel-Mann gefährlich sein könnte, war er auch plötzlich direkt vor mir. Mein Gesicht war nur einige Zentimeter von seinem entfernt und das einzige, was ich hörte, war das Flattergeräusch von unseren Flügeln. Plötzlich fühlte ich einen schrecklichen Schmerz in meinen Bauch. Ein lauter Schrei hallte in meinen Ohren und bevor ich realisieren konnte, dass ich es gewesen war, die geschrien hatte, wurde alles schwarz und ich fiel in mich zusammen. 

LUFTIGEN - becoming a warriorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt