38. Der Brief

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Es war Freitag. Ich war wieder in der Firma von Nates Vater arbeiten. Bereits den zweiten Tag in Folge. Auch wenn es mich heute morgen einige Schlucke Kaffee mehr an Überwindung gekostete hatte, wieder hierher zu kommen als gestern.

Genau wie zum gestrigen Nachmittag saß ich in Mister Browns Büro. Ich hatte es mir auf einem Stuhl schräg neben ihm bequem gemacht.

Sobald ich eingetroffen war, hatte er mich zu sich ins Büro gewunken, um ihm heute den ganzen Tag über die Schulter zu schauen. Wie ein gruseliger Stalker, der nur auf mich gewartete hatte.

Er schien sich für ziemlich unfehlbar zu halten und hatte die letzten Stunden permanent meine Bewunderung für seine Handlungen eingefordert, die ich ihm äußerlich zwar zukommen ließ, mich allerdings einiges an innerer Überwindung kosteten. Er war beinahe wie einer dieser Typen aus der Highschool, die unfassbar gut aussahen und ich dieser Tatsache auch bewusst waren. Dennoch verfügten sie über ein derartiges Geltungsbedürfnis, dass sie jede Woche zur Schau stellen musste wie unwiderstehlich sie doch waren und forderten dies von der weiblichen Spezies regelrecht ein. Nur um in ihrer eigenen Bestätigung zu schwelgen.

Ziemlich erbärmlich, wenn man mich fragte.

Mittlerweile war die Uhrzeit recht fortgeschritten. Das hieß, ich musste heute nur noch eine Stunde überstehen. Dann könnte ich diese Räume, in denen ich mich ungemütlich eingeengt und Nates Vater wehrlos ausgesetzt fühlte, verlassen. Endlich.

Auch, wenn er sich am heutigen Tag noch nicht ansatzweise so unangemessen mir gegenüber verhalten hatte, wie den Tag zuvor.

Es war eine bewusste Entscheidung von mir gewesen Nate das Gespräch zwischen seines Vaters und mir zu verschwiegen. Vor allem, weil ich wusste wie er darauf reagiert hätte. Vermutlich wäre irgendeine Sicherung seines neu entdeckten Beschützerinstinks durchgebrannt und er hätte uns die Tour vermasselt, ehe sie richtig begonnen hatte. Vielleicht war das leichtsinnig und egoistisch, doch letztendlich würde er mir dafür danken, sollte sich diese filmreife Undercover-Mission auszahlen. Zudem waren es schließlich ‚nur' dämliche, sexistische und primitive Sprüche gewesen.

In meinen Augen fing sexuelle Belästigung zwar an diesem Punkt an. Doch ich konnte es ertragen, solang er mir körperlich nicht zu nahe kommen würde. Wovon ich absolut nicht ausging. Schließlich befanden wir uns trotzdem in recht öffentlichen Geschäfträumen seiner Firma, in denen ein offensichtlicher Skandal eher suboptimal und schwer zu vertuschen wäre. Zudem war er kein Vergewaltiger, sondern ein egozentrischer, rückständiger Narzisst. Wobei sich die Dinge nicht unbedingt ausschlossen.

Nates Vater telefonierte bereits seit einer halben Stunde mit irgendeinem, anscheinend recht wichtigen, Geschäftspartner. Soweit ich das richtig verstanden hatte, ging es um Finanzen. Ich hatte dem Gespräch nicht wirklich gefolgt. Auch, wenn ich mit einem Notizbuch und Stift hinter Mister Brown saß und seinen selbstüberzeugten Schulterblick immer mal freundlich erwidern. Die Utensilien hatten tarnenden Hintergrund. Ich hatte nicht vor etwas zu notieren. Eigentlich mimte ich die wissbegierige, Notizen machende Studentin nur für den Schein.

Stattdessen nutzte ich die Zeit, um sein Büro mit meinen Augen nach Auffälligkeiten abzusuchen.

An der Wand befand sich ein großer Schubladenschrank, der in Farbe und Maserung dem Schreibtisch identisch war. Soweit ich das bisher mitbekommen hatte, waren die wichtigsten Akten darin verstaut, auf die Nates Vater schnellen und direkten Zugriff brauchte.

Würde ich die fünfzehn, ja ich hatte gezählt, riesigen Schubladen durchsuchen, um vielleicht ein Stück Papier zu finden, welches seine Korruptheit nachweist und sein Image schädigt, wären definitiv mehrere Monate Praktikum notwendig. Zudem hatte ich mit Sicherheit viel zu wenig Ahnung von Finanzen und Buchhaltung, um einen nachweisbaren Fehler oder Betrug zu erkennen. Auch was Verträge und rechtlichen Grundlagen anbelangte, hatte ich im Prinzip wenig Ahnung.

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