24. Nächtliche Entführung

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Es war Freitagabend. Um genau zu sein: Ein Uhr nachts. Und ich war, leider Gottes, nicht auf einer Party, die mich wachhielt und auf der ich mich amüsierte, was diese späte Uhrzeit angemessen rechtfertigen würde. Nein. Stattdessen hatte ich die letzten zwei Stunden damit verbracht, mich in meinem Bett unruhig von rechts nach links zu wälzen und meine Augen krampfhaft geschlossen zu halten, um meinem Körper verzweifelt zu signalisieren, dass es an der Zeit war müde zu werden.

Doch mein Kopf war zu voll, um seelenruhig schlafen zu können.

Zerschlagen öffnete ich meine Augen und griff nach meinem Handy. Ich entsperrte es und öffnete WhatsApp.
Schon wieder eine Nachricht von Josh.

‚Wollen wir uns vielleicht einfach nochmal treffen und in Ruhe reden? Wir können auch etwas Schönes unternehmen, ganz wie du willst. :)'

Erschöpft atmete ich tief aus, indessen ich mir mit der Hand über mein müdes Gesicht strich.

Missmutig scrolle ich durch den Chat mit Josh. Das war die fünfzehnte Nachricht in den letzten drei Tagen. Er hatte mir immer wieder geschrieben und versucht ein Gespräch in Gang zu bringen.  Angesichts der Tatsache, dass ich nun um seine Gefühle mir gegenüber wusste, fühlte es sich allerdings merkwürdig distanziert und falsch an so zu tun, als hätte dieses Gespräch vor dem Wohnheim nie stattgefunden. In Joshs Nachrichten kam es mir fast vor, als würde er mein Gesagtes ignorieren. Jede Nachricht, jeder Versuch einer Verabredung fühlte sich so unfassbar erzwungen an. Meine kurzen, distanzierten Antworten schien er gekonnt zu überlesen.

Eigentlich hielt ich es für besser erst einmal Abstand zu halten, um ihm und mir die Chance auf eine Freundschaft nicht zu zerstörten. Diese Gefühle musste er in den Griff bekommen. Sonst würde er sich niemals ohne einen Hintergedanken mit mir treffen und irgendwann bitter enttäuscht werden.

Ich hatte ihm dies auch schon versucht in meinen Nachrichten zu kommunizieren, doch ich wollte ihn schließlich nicht noch mehr verletzten als ohnehin schon. Also gingen meine sporadischen Antworten immer mehr in ein Aus-dem-Weg-gehen über. Was natürlich auch nicht die feine englische Art war, doch ich wusste nicht mehr was ich machen sollte. Er wollte einfach nicht aufgeben.

Frustriert schloss ich den Chat und öffnete stattdessen den mit meiner Mutter. Wir hatten besprochen wann und wie ich morgen nach Glennwood kommen würde.
Erst während dem Telefonat mit meiner Familie hatte ich bemerkt wie sehr ich alle vermisste. Ich hatte so viel Stress in den ersten Uniwochen, dass mir diese Tatsache gestern erst richtig bewusst geworden ist. Morgen Nachmittag würde ich meine Familie wiedersehen, was unsagbare Vorfreude in mir auslöste, die sich beim Packen meiner Tasche noch einmal gesteigert hatte. Ich hatte doch tatsächlich ein wenig Heimweh.

Wir freuen uns auf dich, mein Schatz. Schlaf gut und bis morgen. Wir holen dich vom Bahnhof ab.'

Meine Mutter hatte mir noch einmal geschrieben. Müde lächelte:

Bis morgen, ich freue mich auf euch und gebe Bescheid, falls mein Zug Verspätung hat.'

Mein Zug würde morgen Vormittag vom Bahnhof in Bakersfield fahren. Dann wären es circa sieben Stunden Zugfahrt. Das lag an der absolut beschissenen Anbindung, die über jede Kleinstadt fuhr, die im Umkreis der Gleisen existierte. Dafür würde ich meine Familie endlich wiedersehen. Und ich brauchte diese Auszeit. Jetzt, wo die Sache mit Josh zu dem Unistress und der komplizierten Lage mit Nate auch noch dazu gekommen war, erst recht. Chiara würde ebenfalls in Glennwood sein. Das war die Gelegenheit sie auch endlich wiedersehen. Denn, obwohl wir beide in Bakersfield wohnten, hatten wir uns nicht so oft treffen können wie ich vermutet hatte. Das lag vor allem daran, dass sie unter der Woche ziemlich viel arbeitete oder sich abends mit mysteriösen Unbekannten traf, wohingegen ich tagsüber in der Universität war und abends gegebenenfalls in der Bibliothek verbrachte oder mit Drew abhing.

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