19. „Ich bin froh, dass du hier bist"

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Gemeinsam liefen wir zurück zum Studentenwohnheim.
Schweigend.
Doch es war kein unangenehmes Schweigen, welches Zugzwang forderte. Es war eine angenehme Stille, die sowohl Nate als auch mir den Raum gab unsere Gedanken zu ordnen.

Das war auch nötig, denn die vorherige emotionale Situation hatte mich verwirrt und sichtlich aufgewühlt. Das Gesagte von Nate, sein schmerzlicher, leidender Gesichtsausdruck, seine verzweifelte Wut, seine tiefe Ehrlichkeit wollten mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen.

Noch nie hatte ich Nate so gesehen.
Noch nie hatte ich Nate so wahrgenommen, wie ich es nun tat.
Noch nie hatte er über irgendwelche Gefühle, geschweige denn übers eine Familie, gesprochen.

Natürlich, wieso sollte er auch? Im Prinzip waren wir Unbekannte. Wir waren nichtmal richtige Freunde, da sprach man normalerweise nicht über die innersten, emotionalsten Themen, die einem den Schlaf raubten. Unsere Interaktion hatte sich, abgesehen von dem einmaligen Sex, auf neckisches, genervtes Provozieren und Oberflächlichkeiten beschränkt. Insofern wir überhaupt interagiert hatten.

Ich war verwirrt. Meine ganzen Emotionen spielten verrückt und meine Gedanken überschlugen sich, so dass es mir nicht gelang die Gesamtheit der neuen Eindrücke, die ich über Nate gewonnen hatte, zu verarbeiten. In mir herrschte das reinste Chaos.

Doch eine Tatsache kristallisierte sich klar heraus: Mein bisheriges Bild von Nate hatte sich binnen weniger Stunden um einhundertachtzig Grad gedreht.

Plötzlich kam er mir nicht mehr wie der makellose, perfekte, reiche Junge vor, dem alles mühelos zuflog und der es genoss im Mittelpunkt jeglicher, vor allem weiblicher, Aufmerksamkeit zu stehen. Stattdessen wirkte das alles wie eine Maske, die er trug, um seinen wahren Emotionen und seiner echten Persönlichkeit keinen Platz machen zu müssen. Wie eine Art Selbstschutz, um nicht daran zu zerbrechen. Nate war augenscheinlich das komplette Gegenteil von dieser oberflächlichen Maskerade unter die er mich soeben blicken gelassen hatte. Er war unabhängig, selbstbewusst, ehrgeizig und —ich glaubte mir den nächsten Gedanken selbst kaum— sensibel.

Ich warf einen heimlichen Blick zu Nate, der neben mir im Fahrstuhl stand.

Er schien ebenfalls in seinen eigenen Gedanken zu sein. Sein müder Blick fixierte den Boden unter unseren Füßen, seine Hände steckten in den Hosentaschen der Anzughose.

Ich wüsste zu gern, was in seinem Kopf vorging. Was er just diesem Moment dachte. Wieso er mir scheinbar jedes Detail seines Lebens anvertraut hatte, war es noch so schrecklich und beschissen. Ausgerechnet mir. Derjenigen, die ihm, seitdem wir uns ein zweites Mal begegnet waren, durchgängig ablehnend gegenübergetreten war.

Bereute er es vielleicht sogar schon, mir davon erzählt zu haben?

Ich biss mir auf die Lippe und wandte mich ab.

Meine vergangenen Haltungen ihm gegenüber waren wir im Nachgang unfassbar unangenehm. Zwar war er nicht unbedingt eine Persönlichkeit gewesen, die man ohne Weiteres als sympathisch beschrieben hätte, doch ich war eventuell auch nicht gerade die Freundlichkeit in Person gewesen. Zumindest ihm gegenüber.

Ich hatte mich so sehr in die Peinlichkeit unserer Begegnung nach unserer sexuellen Nacht hineingesteigert, dass ich zu sehr damit beschäftigt war mich zu schützen und jedem Unwohlsein aus dem Weg zu gehen. Dabei konnte er weder etwas für die Tatsache, dass wir quasi Zimmernachbarn waren, noch für den Sex. Dazu gehörten schließlich zwei Personen.

Vielleicht hatte ich mich auch nicht nur davor schützen wollen, sondern ebenso vor seiner Anziehungskraft, die mich vermutlich vereinnahmen würde, sobald ich meine negative Haltung ablegen würde.

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