26. Bildungslücken

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Wo zur Hölle hatte ich mein Handy hingeschmissen?

Hastig wühlte ich, mittlerweile das dritte Mal, in meiner kleinen Reistasche. Frustriert pustete ich mir eine widerspenstige Strähne aus dem Gesicht, die sich aus meinem Zopf gelöst hatte.
Ich war mir fast sicher, dass ich es auf jeden Fall eingesteckt hatte. Wo konnte es sonst sein?

Ich sprang vom Bett auf und wuselte abermals hektisch durch mein Zimmer.

Durch ein Klopfen an der Wohnungstür wurde ich unterbrochen. Schnell lief ich in den Flur, um sie zu öffnen.

„Bereit, Sonnenschein?", Nate lehnte lässig, mit einem Rucksack auf dem Rücken, am Türrahmen und grinste mir entgegen.

Wir hatten heute morgen beschlossen zwölf Uhr loszufahren. Außerdem hatte Nate darauf bestanden mit seinem Auto zu fahren, da es bequemer wäre. Meine Eltern waren sogar recht dankbar für den Vorschlag, da sie mich somit nicht vom Hauptbahnhof abholen mussten. Zudem würden wir mit dem Auto ohnehin schneller in Glennwood sein, was auch ein nicht zu wenig beachtender Vorteil einer Autofahrt war, den ich begrüßte.

„Gleich.", gestresst holte ich meine Reisetasche aus dem Zimmer, bevor ich jede einzelne Jackentasche im Flur nach meinem Handy durchforstete.

„Wieso so gestresst?"

„Ich finde mein Handy nicht.", hastig griff ich in die nächste Tasche, während Nate gelassen an der Flurwand hinter mir lehnte. Logischerweise hatte er die Ruhe weg. Er suchte sein Handy ja auch nicht. Der Glückliche konnte froh sein, dass er anscheinend nur halb so chaotisch war, wie ich manchmal. Dabei sagte man immer ‚der Meister beherrscht sein Chaos'. Tja, von ‚Beherrschen' war ich meilenweit entfernt. Stattdessen schien ich darin unterzugehen und es manchmal sogar schlimmer zu machen. Sprichwörter waren sowieso meist dämlich. Hatten deren Erfinder eigentlich jemals das Haus verlassen?

„Du meinst...", darauf spürte ich etwas an der hinteren Tasche meiner Jeans, was mich automatisch herumfahren ließ. Wollte er mich jetzt wirklich angraben? Es würde keinen schlechteren Zeitpunkt dafür geben. Aber gut, wenn er seinen Kopf verlieren wollte.

Im Umdrehen setzte ich zu einer Schimpftirade an, doch als ich Nate sah, blieben mir die gut überlegten Worte glatt im Hals stecken.

„... das hier?", er stand grinsend vor mir, hob amüsiert die Augenbrauen und hielt ein Handy in die Luft. Mein Handy, wie ich an der roten Hülle erkannte.
Überrascht bekam ich keinen Satz raus, stattdessen mussten sich zahlreiche Fragezeichen den Weg in meinen Blick bahnen.

Und als hätte ich die Frage ausgesprochen, antwortete mir Nate: „In deiner Hosentasche."

Kurz schloss ich die Augen, gereizt von mir selbst, atmete tief durch, ehe ich sie wieder öffnete und das Handy entgegen nahm, um es in die Reisetasche zu schmeißen.

Hoffen wir, da würde ich es später auch wiederfinden: „Danke."

„Soo...", resultierte Nate: „Also können wir jetzt losfahren?"

Ein kurzer Blick durch den Raum verriet mir, dass ich für die Feiertage alles haben musste. Im Kopf ging ich die wichtigsten Dinge noch einmal durch: Handy, Geldbeutel, Ausweise, Schlüssel, Kleidung. Hinter jedes dieser Dinge setzte ich einen imaginären Haken, so dass ich zu einem zufriedenen Nicken kam: „Wir können."

Daraufhin verließen wir meine Wohnung gemeinsam, die ich hinter mir abschloss.

Meine Mitbewohnerin war bereits gestern abgereist. Zumindest soweit ich wusste. War nicht so, als würde ich quasi mit einem Phantom zusammen wohnen, dessen Existenz ich nur bemerkte, wenn die Badtür verschlossen war oder sie mir einen genervten Blick zuwarf. Sie schien mich leider nicht besonders zu mögen. Aber das war schon okay. Schließlich teilte ich ja nur meine Räumlichkeiten mit einer mutmaßlichen Psychopathin, in denen ich nachts wehrlos schlief und sie mich jederzeit umbringen könnte. Klasse.

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