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Christian lief durch die Gänge des Reichstagsgebäudes. Er kam gerade aus dem Finanzministerium, musste noch schnell in sein Abgeordnetenbüro und dann wollte er pünktlich zu Roberts Rede im Plenarsaal sitzen. Aber dafür war er schon etwas spät dran. Das war eigentlich nicht sein Plan gewesen. Als er den Saal betrat und Richtung Regierungsbank lief, da hörte er schon, wie Robert mal wieder engagiert sprach. Er merkte, wie Robert kurz zu ihm sah, ohne sich allerdings ablenken zu lassen. Es hatte sich mittlerweile gut eingespielt, dass sie professionell miteinander arbeiten konnten. Und als Robert sich dann wieder auf den Platz links von ihm setzte, da spürte Christian ein wohliges Gefühl in seinem Körper. Sie tauschten sich kurz über Roberts Rede aus, das war auf der Regierungsbank definitiv nichts auffälliges. Es war normal, dass sich die Kabinettsmitglieder austauschten. Trotzdem flüsterte Christian Robert dann doch sehr leise zu:

"Willst du gleich in mein Büro nachkommen? Ich hab bis heute Mittag Zeit, dann muss ich erst wieder los."

"Ja, wobei ich mich nachher noch mit Annalena treffe. Aber ein wenig Zeit hätten wir auf jeden Fall."

So wartete Robert dann, bis Christian einige Minuten Vorsprung hatte. Dann stand auch er auf, verabschiedete sich noch kurz von den anwesenden Kollegen und machte sich dann auf den Weg zu Christians Büro. Da er sich noch nicht so gut in dem großen Gebäude auskannte, musste er sich auf Christians Wegbeschreibung verlassen. Und nach einigen Minuten stand er dann auch vor der Tür, an dessen kleinem Schild MdB Christian Lindner stand. Mit einem Lächeln im Gesicht, was man unter seiner Maske zwar nicht sehen konnte, klopfte er an die Tür. Bevor er überhaupt einen Schritt zurück weichen konnte, riss Christian die Tür beinahe auf und zog ihn herein. Dann half er ihm schnell seine Maske abzunehmen und zog ihn endlich in einen innigen Kuss. Robert war etwas überrumpelt, aber es stand außer Frage, dass es ihm gefiel. Sehr sogar. Die warmen Lippen von Christian auf seinen eigenen. Die weichen Bewegungen, die ihn so sehr aus dem Konzept brachten. Die Nähe, die er am liebsten immer spüren wollte. Das Wohlbefinden, was sich in ihm ausbreitete.

Mit einem Mal öffnete sich die Tür erneut und Robert schreckte zurück. Er strich sich schnell sein Hemd glatt, damit man zumindest nicht sofort sah, dass Christian sich eben in dieses gekrallt hatte. Doch dafür war es schon zu spät.

"Wie auffällig wollt ihr eigentlich sein? Wenn ihr es nichtmal schafft die Tür abzuschließen, dann zweifel ich doch gerade schon sehr an eurer Zurechnungsfähigkeit. Offenbar schafft ihr es ja nicht, die Finger von einander zu lassen."

"Ey Marco, was platzt du auch einfach ohne zu klopfen hier rein? Das macht auch kein normaler Mensch.", antwortete Christian verärgert. Er war gerade aus seiner Schockstarre erwacht und funkelte seinen Kollegen böse an.

"Seid froh, dass es nur ich war. Und das sollte eine Warnung für euch sein. Nachdem ich gesehen habe, wie ihr kurz nacheinander den Saal in die selbe Richtung verlassen habt, da war mir eigentlich schon einiges klar. Und da hab ich schon beinahe hiermit gerechnet. Aber jetzt im Ernst, passt einfach besser auf. Und Christian, ich hoffe du denkst daran, dass wir heute Mittag zusammen Essen wollten."

"Ich fasse es nicht. Musst du uns ernsthaft bewusst so einen Schrecken  einjagen? Kannst gerne heute Mittag machen was du willst, aber ohne mich." Christian war wirklich sauer auf Marco. Wobei wahrscheinlich eher deshalb, weil er sie unterbrochen hatte. Und dass so ganz bewusst. Robert legte ihm beruhigend seine Hand auf die Schulter.

"Es ist doch alles gut gegangen. Marco, wir sind nächstes Mal vorsichtiger, versprochen. Und Christian, sei doch nicht direkt so eingeschnappt. Er hat doch Recht, hier hätte wirklich jeder reinkommen können und dann hätten wir gehörigen Erklärungsbedarf gehabt."

Tatsächlich ließ sich Christian auf seinen Stuhl fallen und wurde wieder etwas ruhiger. Er wollte doch einfach nur jeden möglichen Moment mit Robert verbringen. Und nicht von Marco gestört werden. Aber ja, sie hatten beide Recht. Es hätte auch ein Kubicki dort stehen können. Oder sonst wer. Also sollte er sich nicht beschweren.

"Ja es tut mir leid, Marco. Vergiss, was ich gesagt habe. Nur musst du dich ehrlich nicht wundern, wenn du uns so störst, dass ich dann genervt bin. Aber gut, können wir dir sonst noch irgendwie helfen?"

"Nein nein, ich wollte dich nur daran erinnern, dass wir uns nachher treffen. Ich verabschiede mich dann mal wieder, aber schließt jetzt wenigstens die Tür ab. Und denkt dran, dass die Wände hier hellhörig sind, also überlegt was ihr tut."

Genervt stöhnte Christian auf. Was dachten eigentlich immer alle über sie? Wobei, nachdem Marco sie eben so gesehen hatte, da waren diese Gedanken wahrscheinlich berechtigt. Robert schloss jetzt doch vorsichtshalber die Tür ab und setzte sich dann auf die andere Seite des Schreibtischs. Er schien in Gedanken versunken. Zumindest grübelte er mal wieder, wie er es so oft tat, stellte Christian fest.

"Christian, das darf uns nicht passieren. Das ist höchst unprofessionell. Vielleicht sollten wir uns hier nicht treffen. Marco hat doch vollkommen Recht, mit dem was er sagt. Auch wenn wir jetzt mehr oder weniger Kollegen sind, wird es trotzdem Aufmerksamkeit erregen, wenn man mich hier rein und raus gehen sieht. Und uns hätte wirklich jeder sehen können. Vielleicht sollten wir hier das tun, was man in einem Büro tun sollte. Und in unseren Wohnungen können wir dann alles andere machen."

Bedrückt schaute Christian in Roberts warme Augen. Rational gesehen hatte er definitiv Recht. Aber wieso mussten sie sich denn noch stärker einschränken? Wenn sie doch einfach etwas vorsichtiger waren, dann müsste das doch eigentlich funktionieren.

"Meinst du das ist wirklich nötig? Wir müssen doch einfach nur etwas vorsichtiger sein. Und zwischen Wirtschaftsminister und Finanzminister gibt es ja wohl immer genug zu besprechen. Also ich glaube nicht, dass wir uns noch weiter einschränken müssen. Wir müssen einfach vorsichtig sein. Auch wenn mir das durchaus schwer fällt, wenn ich dich immer sehe und dir nicht nahe sein darf."

Zweifelnd schaute Robert zu seinem Gegenüber. Aus Christian sprach definitiv nicht die Vernunft. Es war klar, dass er ihnen das Leben einfach nicht noch schwerer machen wollte. Aber würde es nicht noch schwerer, wenn es rauskommen würde? Definitiv würde es das. Robert wusste, dass es so komplizierter werden würde. Aber für ihn war das die einzige Möglichkeit.

"Christian, ich weiß nicht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir so nicht weiter machen sollten. Lass uns da heute Abend nochmal in Ruhe drüber sprechen. Ich muss mich jetzt gleich auf den Weg zu Annalena machen. Und denk an Marco."

So stand Robert dann schnell auf und ging zurück auf den Flur. Er wollte ein wenig aus der Situation fliehen und ließ Christian schlecht gelaunt zurück. Als Robert die Tür schloss, sah er einige andere Abgeordnete aus der FDP. Und sie sahen ihn keineswegs komisch an. War es vielleicht doch normal, dass er des Öfteren bei Christian im Büro war? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass es mal wieder eine zusätzliche Belastung in ihrem Leben war. Und dass er Christian damit verärgert hatte.

Dieser wartete nur darauf, dass Marco erneut bei ihm im Büro eintraf. Ja, er war wirklich etwas sauer. Er wollte doch nur jede Minute mit Robert ausnutzen. Dabei nicht gestört werden. Und schon gar nicht, dass Robert stattdessen wieder anfing zu zweifeln. Es nervte ihn einfach nur noch. Warum konnten sie nicht zusammen sein? So normal wie eben möglich. Und er wollte auch Robert gerade nicht verstehen. Er wollte es einfach nicht verstehen. Und er wusste, dass er gerade naiv war, aber es war ihm egal. Er wollte auch einfach mal nicht rational denken. Mal nicht immer nur der professionelle, abwägende Politiker sein. Und er fand, dass er gerade die Berechtigung dafür hatte. So bekam dann auch Marco die schlechte Laune Christians ab, als sie gemeinsam zur Kantine des Bundestags liefen.

Der ganze Lärm um uns Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt