Epilog

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»Textmarker?« Tobias legte sein Smartphone auf den Tisch und sah Nick fragend an.

Der schob Tobias einen Textmarker zu, bevor er seinen rechten Arm um meine Schultern legte. »Gott, bin ich froh, wenn diese elenden Prüfungen zu Ende sind.«

Ich nickte und tippte auf eine Annonce in der Zeitung, die Tobias gefallen könnte. Es handelte sich dabei um eine günstige Zweizimmerwohnung am Stadtrand, nicht zu klein oder zu groß, gerade ausreichend für einen jungen Studenten.

»Das wäre etwas für dich.«, sagte ich.

»Das wäre auch etwas für uns.«, warf Nick ein. Seine Augen ruhten auf mir, dann schnellte sein Blick zu unserem Freund.

»Nur keine Eile. Mein Vater hat noch nicht bemerkt, dass du in unserem Keller wohnst.« Tobias grinste schief und ließ den Textmarker herüber rollen.

Ich lachte nachdenklich und stellte fest, dass mir der Gedanke an eine eigene Wohnung und die damit verbundene Freiheit ziemlich gut gefiel. Außerdem hätte Daniel das winzige Apartment, in dem wir momentan lebten, fortan nur für sich.

»Also gut.« Mit dem Textmarker kreiste ich die Anzeige dick und fett und in einem grellen Gelbton ein.

Nick drückte mir einen Kuss auf die Schläfen. Seine Hand rutschte meinen Rücken hinunter bis zu meiner Taille. Mein Herz geriet unwillkürlich ins Stolpern.

»Nick«, mahnte ich und ließ meinen Blick durch die überfüllte Mensa schweifen. Es war halb zwei, das hieß, viele Schüler wollten hier nach dem Unterricht oder vor ihren nächsten Prüfungen zu Mittag essen.

Nick sah mich an, als wüsste er überhaupt nicht, wovon ich sprach. Seine Mundwinkel zuckten leicht, bevor er mich charmant anlächelte und sein Kinn auf meine Schulter sinken ließ. Augenverdrehend lehnte ich mich auf meinem Stuhl zurück. »Du merkst aber schon, dass uns deine Lehrerin beobachtet, oder?«

Nick öffnete seinen Mund, klappte ihn jedoch wortlos wieder zu. Dann spürte ich, wie er seinen Kopf ein bisschen anhob, um den Nachbartisch genauer inspizieren zu können.

»Die guckt wegen mir hier her. Ich bin neulich fast zu spät zur Prüfungsvorbereitung gekommen.«, murmelte Tobias mit einem grimmigen Ausdruck im Gesicht.

Er faltete die Zeitung zusammen. »Mein Vater hat sie bestimmt darauf angesetzt, ein Auge auf mich zu haben.«

Ich richtete meinen Blick wieder auf die Lehrerin, die nur einen Tisch weiter saß und ihr Stück Pizza penibel mit Messer und Gabel aß. »Du verarschst uns doch, oder?«

Tobias lächelte müde. »Ich wünschte, es wär so. Er will aus mir den Junior Chef seiner Firma machen, aber ich denke, ich mache erstmal mein eigenes Ding. Solange er bestimmt, werde ich niemals mein eigenes Leben führen.«

»Das ist eine sehr gesunde Einstellung«, sagte plötzlich jemand. Wir guckten allesamt nach links und entdeckten Elena. Freudestrahlend wedelte sie mit einem Blatt Papier herum.

Tobias Augen wurden groß. »Du hast es geschafft?«

»Ich habe es geschafft!« Sie lachte breit und als Tobias aufsprang, fielen sich die beiden überglücklich und freundschaftlich in die Arme. Für den Bruchteil einer Sekunde verweilten die beiden in dieser Position, bis sie schließlich voneinander abließen und Elena mir überschwänglich die ausgedruckte E-Mail gab. Schnell überflog ich die Zeilen auf dem Blatt Papier.

»Kalifornien«, entfuhr es mir aufgeregt. »Wahnsinn!«

»Wir besuchen dich.« Tobias zog Elena einen Stuhl heran.

Ich hob den Blick, als Elena sich gegenüber von mir hinsetzte. »Ich kann es immer noch nicht fassen ... Wow«

»Ich auch nicht.«, entgegnete sie, und ich konnte mir vorstellen, dass ihr das Herz vor Glück bis zum Hals schlug. »Ich habe ein Stipendium für meine Traum-Uni bekommen ... Und dann noch im Ausland! Berkeley, ich komme!«

»Das war's mit Schule«, sagte Nick zufrieden und ließ sich zurück auf seinen Stuhl fallen. »Und mit Integralrechnung.« Er verzog das Gesicht.

Elena biss sich auf die Lippe. Wenn ich ganz genau hinschaute, konnte ich erkennen, wie sie hinter ihrer makellosen Fassade mit aufsteigender Panik zu kämpfen hatte. Tobias und Nick unterhielten sich leise miteinander, während ich mich auf Elena konzentrierte.

„Hey", sagte ich rücksichtsvoll. „Möchtest du gerne rausgehen?"

Elenas Blick sprang zu mir, als hätte ich sie aus ihren tiefsten Gedanken wieder zurück in die Realität befördert. Ich erkannte, wie ihre Augen zu den Nachbartischen huschten und sie alles gab, sich zu beruhigen. Sie tun dir nichts. Niemand will dich hier umbringen ... oder doch? Elena fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und verharrte kurz.

„Nein. Alles okay.", wehrte sie ab.

Tobias richtete seinen Blick auf sein vibrierendes Smartphone. Er nahm es in die Hand und tippte auf dem von schwarzem Edelstahl gerahmten Display herum.

»Es ist kurz vor zwei. Meine letzte Prüfung fängt gleich an.« Tobias räusperte sich und griff nach dem Textmarker und der gefalteten Zeitung, die auf dem Tisch lag. Sein Blick blieb an Nick hängen. »Du musst auch los.«

Widerwillig schob Nick seinen Stuhl zurück.

„Viel Glück euch beiden.", sagte Elena, als wir alle aufgestanden waren. Die Anspannung saß ihr in den Knochen. Tobias bedankte sich. Er nahm seinen Coffee-to-go Becher und schulterte den Rucksack.

„Hast du viel gelernt?", fragte er Nick.

Dieser hob bloß die Brauen. „Hast du?"

„Geht."

„Komm" Nick feixte. „Mach deinen Vater stolz."

„Halt die Klappe" Tobias lachte, und sie machten sich auf den Weg. Elena und ich tauschten einen amüsierten Blick. Gemeinsam verließen wir die Mensa am Hinterausgang, um pünktlich zu den Besuchszeiten im Gebäude der Untersuchungshaft anzukommen.

Ehrlich gesagt hätte ich noch vor einigen Monaten nicht damit gerechnet, in solch einer Lebenslage tatsächlich zufrieden sein zu können. Noch kam es mir unwirklich vor, aber ich wusste, ich verdiente es. Wir alle verdienten es, aufrichtig glücklich sein zu dürfen.

Elena - Dem Bösen so nahWhere stories live. Discover now