Kapitel 67

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Nachdem unsere Mutter gegangen war, setzte sich Daniel neben mich auf die Bettkante. Gemeinsam starrten wir die offen stehende Zimmertür an.

»Danke«, murmelte ich.

»Kein Ding« Daniel rückte weiter nach hinten.

»Es tut mir leid, dass unsere Familie so verkorkst ist.« Er winkelte seine Beine an und lehnte den Kopf gegen die Tapete, »Für mich wirst du immer meine kleine Schwester sein.«

»Danke. Nochmal.« Meine Augen wurden wieder feucht. Ich verkrampfte die Finger um meine Bettdecke, die auf meinem rechten Bein lag.

Daniel seufzte. »Bin ich froh, jetzt nicht alleine in meinem Zimmer zu sitzen.«

»Ich auch«

»So wie früher, als sich unsere Eltern gestritten haben.«, sagte Daniel.

Schwer schluckend nickte ich.

»Du weißt, dass unser Vater alkoholabhängig war, oder?«

»Sicher«, antwortete ich und setzte leise hinzu: »Auch, wenn es niemals jemand laut aussprechen durfte.«

Mein Bruder starrte gegen die Zimmerdecke.

»Es reicht.«, flüsterte er.

Irritiert drehte ich mich zu ihm um.

»Es reicht mir. Ich meine, wir haben alles geduldet. Immer.« Er klang wütend, »Ich bin es leid.«

Daniel rutschte nach vorn und stützte sich, als er aufstand, an der Bettkante ab. Im Eilschritt lief er auf meine Zimmertür zu.

»Was hast du vor?«, rief ich. Dann sprang ich auf und lief meinem Bruder nach.

In der Küche saß unsere Mutter mit angezogenen Beinen auf einem Stuhl.

»Mama« Daniel stand vor mir im Türrahmen. Der Zorn in seiner Stimme gepaart mit der Tatsache, dass er einen Kopf größer war als unsere Mutter und ich, ließen ihn furchteinflößend wirken. »Anstatt dich wieder zu verkriechen wie sonst immer, könntest du mal ausnahmsweise für Jackie da sein.«

Unsere Mutter schniefte. »Ich habe immer alles für euch gegeben.«

»Warum hast du uns dann diesem Mann ausgesetzt?«, entfuhr es Daniel. »Kannst du dir vorstellen, wie oft ich mit unter zehn Jahren in meinem Zimmer saß und Jackie getröstet habe, weil sie total verängstigt war? Niemand hat etwas gesagt! Niemand! Dabei war es längst überfällig. Und dann bist du auch noch immer zu ihm ins Krankenhaus gefahren ... als wäre er ein Heiliger. Das war er aber nicht!«

»Er war euer Vater!«

»Er hat unsere Familie mit seiner Sauferei zerstört«, sagte Daniel bitter.

Seine Worte trieften vor Schmerz. »Wann begreifst du es endlich?«

Unsere Mutter schwieg bedrückt. Mein Bruder sah zu mir. Schwer schluckend glitt sein Blick weiter durch den Raum, bis er an dem abgeschnittenen Foto an der Pinnwand hängenblieb.

»Warum spricht es niemand aus?« Daniel betrachtete das Foto, »Wir können froh sein, dass er tot ist.«

»Daniel!« Ihre Stimme brach. Tränen rollten ihr über die Wangen. Schwarze Spuren der Mascara untermalten ihre Augenringe und ließen sie kränklich aussehen. »Denkst du, euer Vater hat gerne getrunken? Denkst du, ich habe das gerne erlebt? Ich habe immer mein Bestes für euch gegeben!«

Daniel biss fest die Zähne zusammen. Meine Schläfen pulsierten vom Weinen. Meine Nase und meine Augen fühlten sich geschwollen an und ich bekam Halsschmerzen.

Unsere Mutter stand von ihrem Stuhl auf. »Euer Vater hatte eine liebevolle Familie verdient! Auch ein Trinker darf Familie haben.«

»Das darf er. Er darf sie aber nicht schlagen und als Ausrede auf die Flasche zeigen. Das ist feige.«, rief Daniel.

Ich stand einfach nur hinter ihm. Schweigend und vollkommen aufgelöst.

»Ich will, dass du gehst.« Sie zeigte zum Flur.

»Ich soll gehen?«, wiederholte Daniel mit gefährlich leiser Stimme.

»Ja, ich will, dass du gehst und dich beruhigst.« Unsere Mutter nickte heftig.

Mein Bruder kehrte ihr den Rücken zu. Seine Augen heftete er auf mich, aber er sagte nichts. Kein Wort. In seinem Gesicht konnte ich eine Wut erkennen, die ich niemals mit ihm in Verbindung gebracht hätte. Heute sah Daniel aus wie Nick. Verbraucht und abgekämpft. Als würde das Leben keinen Sinn mehr für ihn ergeben.

Daniel schob sich an mir vorbei. An dem Spiegel neben der Kommode hielt er plötzlich inne. Ich drehte mich zu ihm um und sah gerade noch, wie er ausholte und seine Faust krachend den Spiegel traf. Das Glas zersplitterte in hunderte von scharfkantigen Scherben. Daniel ballte seine blutverschmierte Hand erneut zu einer Faust.

Ich lief so schnell ich konnte zu ihm und griff in der Bewegung nach seiner Hand. Sanft legte ich meine zierlichen Finger um seine geballte Faust. Drückte seinen Arm langsam herunter.

»Das ändert nichts.«, flüsterte ich.

Seine Augen waren glasig.

»Sie wird nicht mit einem Mal für uns da sein. Ich glaube, das kann sie überhaupt nicht.«, sagte ich zu ihm.

Daniel fixierte die Wand hinter mir mit seinen dunklen Augen. Er zitterte vor Zorn, aber im tiefsten Inneren war dies wohl nur der Schutz vor seiner Verletzlichkeit.

»Ist schon gut« Meine Sicht war tränenverschleiert, »Es ist okay, dass du wütend bist. Es ändert nur nichts.«

»Ich will, dass sie es einsieht.«, murmelte er.

»Ich auch.« Der Kloß in meiner Kehle wuchs, »Sie kann nur nicht.«

»Er hat angefangen und dann war er irgendwann nie mehr nüchtern.« Daniel sah mich an, als könnte er in meinen Augen die Erklärung finden, die er seit seiner Kindheit suchte. »Wie lange dauert es, bis ich nie mehr nüchtern bin?«

»Das wird nicht passieren.« Tränen stiegen mir schon wieder in die Augen, »Du bist nicht wie er. Das wirst du niemals sein, okay?«

Er nickte vorsichtig. »Falls doch musst du mich in eine Klinik einweisen.«

Ich kannte meinen Bruder. Er meinte es ernst.

»Okay.«

»Jackie, versprich es mir.«, flehte er verzweifelt.

»Ja, ich verspreche es dir.« Ich wischte mir mit dem Pulloverärmel über das Gesicht. Meine Sicht wurde klarer. Behutsam ließ ich Daniels Hand los und blickte auf die blutenden Schnittwunden, die seine Knöchel und Finger zierten.

»Komm, wir müssen die Wunden versorgen.«, sagte ich leise. Und damit meinte ich nicht bloß die Offensichtlichen.

Elena - Dem Bösen so nahWhere stories live. Discover now