Kapitel 49

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Margot wies auf Nick. »Darf ich dich fragen, wo du wohnst?«

»Nein«, sagte er. Margot verzog ihr Gesicht. Sie wollte wohl etwas erwidern, doch ich kam ihr zuvor.

»Will noch jemand Tee?« Meine Stimme bebte, als ich fragend in die Runde sah. Niemand meldete sich.

Elena atmete tief durch, während Tobias mich nachdenklich anschaute. Ich wich seinem Blick aus.

Es wurde unzumutbar still im Wohnzimmer. Luise zupfte nervös an ihrem Pullunder herum, den sie über einer schlichten weißen Bluse trug. Sie war schick, jedoch trotzdem leger gekleidet. Ihr Alter schätzte ich auf Mitte siebzig.

Krista presste ihre Lippen fest aufeinander, sodass diese wie ein blutleerer Strich in ihrem kreidebleichen Gesicht aussahen. Unbehaglich senkte ich das Kinn.

»Gestern habe ich mir Fotoalben angesehen.«, sagte Elena leise. Mir war noch nie aufgefallen, wie hübsch ihr ovales Gesicht war.

Sie stand auf und ging zum Bücherregal. »Ich habe ein Buch gefunden. Elli und ich haben uns damals lange über die Geschichte unterhalten. Sie sagte etwas zu mir, an das ich mich gestern erinnert habe.«

Luise drehte sich zu Elena um. Diese reichte ihr ein Buch. Luise legte es auf den Couchtisch, damit wir es alle sehen konnten. Mir stach sofort das Buchcover ins Auge. Es wirkte mysteriös und durch die erhabenen Blutspritzer ziemlich brutal.

»Das Buch handelt von einem Mann, der scheinbar willkürlich Menschen tötet. Ihr wisst ja, Elisabeth hat Thriller geliebt.« Elena lächelte für einen Moment. Dann verschwand das Lächeln schlagartig. »Jedenfalls finden die Kommissare in diesem Buch heraus, dass sie es nicht mit einem Serienmörder zutun haben, der bloß Spaß am Morden hat. Dieser Mörder glaubt, die Menschen müssten sterben. Er glaubt, er müsse diese Opfer vollbringen und die Leichen an einen ganz bestimmten Ort bringen, damit sie keiner findet.«

Luise betrachtete eingehend den Thriller auf dem Couchtisch. »Wenn ich mir dieses Buch ansehe, habe ich absolut keine Ahnung, inwiefern Elisabeth und ich verwandt sind.«

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht, aber dann musste ich an Margot denken und schon fühlte ich mich besser.«, schmunzelte Krista.

Margot schlürfte ihren Tee. Ihre Lippen erzeugten dabei ein schmatzendes Geräusch am Tassenrand. »Meine Schwestern verschwören sich gegen mich.«

»Nur weil du ein Buch des Genres Horror nach dem nächsten lesen kannst, ohne auch nur einen Albtraum davon zu bekommen.«, fügte Luise hinzu.

Elena lächelte wieder. Ihre Haare changierten von dunkelblond bis zu hellbraun, je nachdem wie der Lichteinfall war. Ich verkrampfte mich.

»Wisst ihr, was Elisabeth zu dem Buch gesagt hat?« Elenas Augen strahlten. Wieso war mir noch nie zuvor aufgefallen, wie ähnlich sie meiner Mutter sah? Ihre Gesichtszüge, die dunkelblonden Haare, die blauen Augen ... Es hätte mir eigentlich schon früher auffallen müssen.

Am liebsten wollte ich gar nicht wissen, wer von uns die leibliche Tochter war. Ich konnte es mir ohnehin schon denken, da brauchte ich nicht die Demütigung zu erleben, wenn Elena schwarz auf weiß lesen konnte, das sie es war. Die Frau auf dem Foto war ihre Mutter. Nicht meine, sondern ihre.

Das würde unsere Familie noch einmal auf eine harte Probe stellen. Meine Geschwister würden ihre richtige Schwester kennenlernen wollen und meine Mutter hätte einige Jahre mit ihrem leiblichen Kind aufzuholen.

Elena würde die Familie kriegen, die sie sich immer gewünscht hatte.

Ich würde die Familie verlieren, die ich noch hatte.

Nur durch die Anspannung in meinem Körper begann ich nicht zu weinen. Irgendwie konnte ich es verstecken, während Elena erzählte. Ihr Mund bewegte sich, doch ich fühlte mich, als hätte ich Kopfhörer im Ohr. Ich konnte kein Wort verstehen.

Elena - Dem Bösen so nahWhere stories live. Discover now