Kapitel 31

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Das Grundstück von Elenas Tante befand sich verborgen inmitten des dunklen Waldes, direkt am Abhang zum See. Hier standen Tannen, Fichten, Buchen und Eichen mit dürren Zweigen an denen kaum mehr ein Blatt hing. Vereinzelte Sonnenstrahlen ließen den See glitzern, sodass er fast schon verwunschen aussah.

Die Lichtreflexe blendeten uns, aber nur wenige Meter weiter war das Buschwerk wieder so hoch, dass wir den See bloß noch erahnen konnten. Es war atemberaubend, wie naturbelassen und wunderschön dieses Grundstück war. Der Lärm der Hauptstraße wurde immer leiser, und mich überkam ein beruhigendes Gefühl, als würde ich mit der Natur verschmelzen.

Der Trampelpfad zum Haus war wie der Eingang in eine Höhle aus Büschen, wilden Gräsern und Dickicht, die einen mit schützenden Armen umgab. Es war hier wie eine andere Welt. Abgeschieden, fast ein bisschen unheimlich, und gleichzeitig so ruhig.

Die Stille lud einen praktisch zum Rätseln ein. Und mit jedem Schritt verstand ich Elena besser.

»Kommt!« Tobias riss mich aus meinen Gedanken. Wir hatten das Haus erreicht. Die Zwischenräume des Fachwerks waren von roten Steinen ausgefüllt. In einen Querbalken waren Zahlen und Buchstaben eingeritzt. Ich schaffte es nicht, diese vollständig zu entziffern. Stattdessen ließ ich meinen Blick lieber über die weißgestrichenen Sprossenfenster schweifen. Efeu rankte an der Giebelseite hinauf.

»Wir können einfach reingehen. Elena hat mir zum Glück das Versteck des Schlüssels gezeigt.«, sagte Tobias und holte einen Schlüssel zwischen den roten Steinen des Fachwerks hervor. In seiner Stimme schwang Erleichterung mit. Um ehrlich zu sein wäre ich auch nicht sonderlich gern in dieses Haus eingebrochen.

Auf dem Podest vor der Haustür stockte Tobias dann doch. Er starrte einen Aufkleber an, der zwischen Tür und dem Gemäuer klebte. »Ein amtliches Siegel«, murmelte er.

»Kannst du nicht trotzdem aufschließen?«, wollte Jasmin wissen.

Tobias fuhr mit dem Zeigefinger über das Siegel. »Es steht dran, dass das Ablösen oder Beschädigen strafrechtlich verfolgt wird, ... aber dieses Siegel hier wurde schon einmal durchgeschnitten. Seht ihr?« Er deutete auf die saubere Schnittkante.

»Dann gehen wir rein.« Ich nickte fest entschlossen, »Wenn es durchgeschnitten ist, war immerhin schon jemand vor uns da.«

»Vermutlich die Spurensicherung.« Tobias schloss die Haustür auf.

Jasmin war die Erste, die das Haus betrat. Staunend betrachtete sie die alte Einrichtung. Ich stand nun direkt hinter ihr. Jasmins Parfum duftete nach Rosenblüten, und das Kitzeln in meiner Nase machte mich ein wenig nervös.

Genervt drängte ich mich an Jasmin vorbei. Ein Spritzer Parfum hätte es auch getan, dachte ich mir, aber verkniff mir meinen Kommentar, um keinen Streit vom Zaun zu brechen.

»Wir gehen ins Obergeschoss. Sucht ihr hier unten nach irgendetwas, was uns weiterhelfen könnte?« Tobias schloss die Haustür hinter sich und tippte mir auf die rechte Schulter.

Ich nickte ihm zu. Es war erleichternd zu wissen, dass ich mit Tobias ins Obergeschoss gehen würde. Er machte mich nicht so nervös wie Nick, und ich brauchte mich nicht mit Jasmin auseinanderzusetzen.

»Können wir nicht tauschen?«, jammerte Jasmin.

»Meinetwegen.« Ich wollte niemandem den Tag verderben. Auch mir selbst nicht, also drehte ich mich suchend nach Nick um. Er war anscheinend schon in den Tiefen des alten Fachwerkhauses verschwunden.

Tobias warf mir einen letzten Blick zu, bevor er mit Jasmin die Treppe ins Obergeschoss hinauflief.

Mit einem tiefen Seufzer machte ich mich auf den Weg ins Innere des fremden Hauses. Die Möbel waren altmodisch. Mir gefiel jedoch der Gedanke daran, was diese ganzen Gegenstände wohl für eine Geschichte zu erzählen hatten. Bei moderner Einrichtung war das niemals der Fall. Sie war zu steif, ohne Charakter.

Elena - Dem Bösen so nahWo Geschichten leben. Entdecke jetzt