Kapitel 51

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Durch die Sprossenfenster fielen einzelne Lichtstrahlen ins Wohnzimmer. Die Sonne war gerade erst aufgegangen. Es musste noch sehr früh sein, vielleicht gerade einmal halb sechs. Elena und Tobias schliefen noch, aber Nicks Platz war leer. Ich hatte gar nicht gehört, wie er aufgestanden war.

Auf Zehenspitzen schlich ich mich hinaus in den Flur. Nick saß in der Küche. Seine krausen Haare hingen ihm wirr in die Stirn. Vor ihm stand eine Schale mit Müsli, die er gedankenverloren anstarrte.

»Hey«, sagte ich.

Nick fuhr zusammen.

»Konntest du auch nicht mehr schlafen?«, fragte er.

»Zu viele Sorgen.«, murmelte ich.

Nick rieb sich den Nacken. »Vielleicht sollten wir doch die Polizei einschalten und ihnen alles erzählen.«

Ich setzte mich zu ihm an den Küchentisch. »Du weißt, dass Elena kein Alibi hat. Da ist es ganz egal, was wir von der Entführung erzählen. Wir haben keine Beweise.«

»Also warten wir, bis der Mörder herkommt, um sich die Uhr höchstpersönlich zu holen?« Nick schüttelte seinen Kopf, »Ich darf bei sowas nicht von der Polizei gesehen werden.«

»Das wirst du nicht.«, erwiderte ich ernst. »Du kannst vorher gehen, wenn du das willst.«

Nick spannte seinen Kiefer an. Für einen Moment sagte er gar nichts, aber dann überraschte er mich. »Nein, ich will euch nicht im Stich lassen.«

»Wir sollten versuchen, nicht vom Schlimmsten auszugehen.«, sagte ich sanft.

Er nickte, aber besorgt schien er immer noch zu sein.

Ich griff nach dem Müsli und öffnete die Verpackung. Mit zwei Fingern fischte ich einige Trockenfrüchte heraus und aß sie. Glücklicherweise hatte ich keine Rosine erwischt. Die mochte ich nämlich deutlich weniger als getrocknete Apfelstücke oder Bananenchips.

»Wenn das Müsli leer ist, haben wir nur noch Tütensuppen und Essen aus Konservendosen.«, meinte Nick. Er konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, als ich ertappt aufschaute.

Rasch verschloss ich das Müsli wieder. Einige Haferflocken landeten dabei auf der Tischplatte.

»Als mein Vater gestorben ist, haben wir fast täglich Essen aus der Dose gegessen. So schlecht hat es nicht geschmeckt.« Ich war definitiv ein Befürworter von Fertiggerichten.

»Ich will dir ja keinen Schock verpassen, aber in der Vorratskammer von Elenas Tante findet man nicht nur Dosenravioli.«, erklärte Nick.

Irritiert sah ich ihn an.

»Da ist echt ekelhaftes Zeug dabei.« Er lachte. Anscheinend war mein skeptischer Blick sehr amüsant. Oder man sah mir an, wie schnell mir bei seinem Lachen das Herz klopfte.

Eine unangebrachte Hitze stieg mir in die Wangen.

»Ich glaube, ich will es gar nicht wissen.«, murmelte ich verspätet.

Nicks Grübchen stachen heraus und er begann mir von eingelegten Gurken in alten Einmachgläsern zu erzählen, dessen Deckel sich bereits wölbte.

»Nick!« Ich vergrub das Gesicht in meinen Händen und versuchte vergeblich, mir dieses Szenario von schäumendem Essigwasser nicht genauer vorzustellen.

»Hör auf, bitte!«, stieß ich lachend hervor.

»Stell dir vor, du öffnest ein Glas von diesen Gurken und dir kommt schon so ein modriger Geruch entgegen.«, neckte mich Nick.

Ich zog meine Schultern hoch. Auf meinen Armen bildete sich eine Gänsehaut, und ich kniff vor Ekel meine Augen zusammen.

»Du hast gewonnen, okay?!«, lachte ich.

»Wenn du dich sehen könntest!« Nick warf seinen Kopf in den Nacken.

Ich schnappte mir einige von den Haferflocken, die noch auf dem Küchentisch lagen. Mit meinem Zeigefinger schnipste ich sie Nick entgegen. Er versuchte vergeblich, eine der Haferflocken mit dem Mund zu fangen.

»Du bist blöd.«, murmelte ich.

Nick grinste mich breit an. »Ich weiß.«

Ich lauschte den leisen Geräuschen unserer Atmung. Seit einer Ewigkeit hatte ich mich selbst nicht mehr so wohl in meiner Haut gefühlt. Ein warmes Gefühl machte sich in mir breit. Ich war glücklich. Vielleicht viel glücklicher, als ich es jemals bisher gewesen war.

Stumm stand ich von meinem Platz auf. Mein Magen knurrte, woraufhin ich einen glucksenden Laut von mir gab. Nick lachte leise.

»Hallo«, erklang Elenas Stimme hinter mir. Nicks und mein Lachen erlosch. Er wirkte plötzlich wieder so in sich gekehrt wie in den letzten Tagen. Irgendwie beschäftigt und abweisend, jedoch nicht auf eine zufriedene Art und Weise.

Ich guckte ihn nachdenklich an. Was war nur los?

»Hoffentlich gibt es noch was zum Frühstück« Tobias schob sich an Elena vorbei. Hungrig begutachtete er die Schüssel, die vor Nick auf dem Küchentisch stand.

Verloren stand Elena im Türrahmen, bis sie schließlich verlegen zu Boden sah.

Es kostete mich allerlei Überwindung, aber schließlich nahm ich meinen Mut zusammen. »Willst du dich vielleicht zu uns setzen?«, fragte ich.

Unentschlossen blieb Elena stehen, bis sie sich endlich einen Ruck gab und zu mir kam. Ich gab ihr die Müslipackung. »Tobias, reichst du Elena und mir auch zwei Schalen und Löffel?«

»Klar« Tobias öffnete die Küchenschränke und stellte dann das Geschirr auf den Tisch.

Elena lächelte mich dankbar an. Ein wenig unbeholfen lächelte ich zurück. Ich wollte ihr nicht die Schuld an dieser Situation geben.

Plötzlich klingelte etwas. Ein helles, glasklares Klingeln. Ich sah zu Nick, der sofort sein Handy in die Hand nahm. Sein Gesicht wurde aschfahl, als er auf das Display blickte. Er hatte etwas düsteres an sich, jetzt noch viel mehr als normalerweise. Auf seiner Stirn bildeten sich tiefe Furchen. Dann sprang er auf und stürmte aus der Küche. Tobias und Elena schauten völlig perplex auf. Ich erhob mich von dem Stuhl. Eilig lief ich in den Flur, aber da knallte die Haustür auch schon zu.

»Denkt ihr, er ...« Tobias schluckte schwer.

»Nein.«, sagte ich, als ich zurück in die Küche kam. »Nein, er kommt wieder.« Doch so sicher war ich mir mit einem Mal nicht mehr.

Elena - Dem Bösen so nahWhere stories live. Discover now