Kapitel 23

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Als ich am nächsten Tag in die Schule ging, war Elena nicht dort. Sie tauchte auch in den darauffolgenden Tagen nicht auf, und ich wurde das Gefühl nicht los, dass ihr der Fremde etwas angetan hatte. Vielleicht lebte sie nicht einmal mehr.

Ich wusste, ich musste mit Elenas Familie reden. Ich musste die Polizei benachrichtigen. Es gab so vieles, was ich tun musste, doch die Angst, Elena damit noch mehr Schaden zuzufügen, blieb bestehen.

»Jackie, sind Sie noch anwesend?« Die Mathelehrerin lächelte mich aufmerksam an.

Ich nickte bloß, und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, dass ich keine Ahnung von den Gleichungen an der Tafel hatte.

Zu meinem Glück wurde jemand anderes aufgerufen, der sich sogar freiwillig meldete. Ich schweifte gedanklich ab.

Elena hatte die letzten Wochen mit Tobias geredet, wenn sie nicht alleine gewesen war. Er hatte den fremden Mann auch gesehen, er war anschließend noch bei Elena gewesen, und trotz alledem hatte sie nicht mit ihm sprechen wollen, als ich sie darauf aufmerksam gemacht hatte, dass Tobias uns von der Bushaltestelle aus angestarrt hatte. Was auch immer zwischen den beiden stand, ich musste unbedingt mit ihm reden.

»Jackie!« Die Lehrerin schüttelte ihren Kopf über meine geistige Abwesenheit.

Peinlich berührt sah ich zu ihr auf.

»Leute, wird das jetzt zur Gewohnheit?«, beschwerte sich unsere Mathelehrerin.

Ich zuckte entschuldigend mit den Achseln, aber, das das nicht gerade zufriedenstellend war, konnte ich mir denken. Also griff ich nach meinem Buch und schielte zu meiner Sitznachbarin, um die Seitenzahl herauszufinden.

Die richtige Seite verschlug ich zwei Mal, um einer miesen Gleichung zu entgehen, die unsere Lehrerin gerade anschrieb. Und kaum, dass der Pausengong ertönte, sprang ich von meinem Platz auf. Der mahnende Blick unserer Lehrerin streifte mich, und ich ahnte bereits, wenn meine Mutter zum Elternsprechtag ging, würde sie nicht allzu viel Gutes über mich zu hören bekommen.

Eilig hastete ich den Gang hinunter, an Schließfächern und Plakaten vorbei, bis ich die Treppe erreicht hatte. Im Erdgeschoss tummelten sich schon die meisten Schüler. Sie saßen auf dem Fußboden vor dem schwarzen Brett, unterhielten sich vor dem Kiosk, und standen mir im Weg, als ich in die Mensa gehen wollte.

Ich erinnerte mich an Elenas und mein erstes Zusammentreffen. Es war direkt vor mir an einem Buffet gewesen, wo jetzt die Tischreihen standen. Damals war mein Vater gerade ins Krankenhaus gekommen, und ich war völlig durch den Wind gewesen. Elena hatte nichts von dem gewusst, was mich an jenem Abend so beschäftigt hatte, aber sie hatte nicht aufgehört, mit mir zu reden und mich aufzuheitern. Sie war sensibel. Ihr fiel auf, dass die eine Seite eines Fotos schief abgeschnitten war. Und ich fragte mich nicht zum ersten Mal, weshalb sich jemand so einfühlsames mit einer oberflächlichen Person wie Jasmin abgab, die sich für nichts außer Schmuck und Handtaschen begeistern konnte.

Die Tischreihen wurden mit jedem Schritt leerer, bis ich an der Glasfront der Mensa angekommen war. Mich grüßte einer meiner Mitschüler, dem ich neulich einen Kugelschreiber geliehen hatte. Ich schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln, welches er erwiderte und stehenblieb, als wollte er ein Gespräch mit mir beginnen.

Wäre meine Schwester hier, hätte sie mir versucht einzutrichtern, dass er mich garantiert auf ein Treffen einladen wollte. Seinem sanftmütigen Blick und den leuchtenden Augen nach zu urteilen, hätte ich ihr zwar insgeheim recht gegeben, es allerdings niemals ausgesprochen. Denn ich war kein Mädchen, das auf »Dates« ging. Ich hatte keinen speziellen Typ. Meinen Geschwistern erzählte ich mit sarkastischem Unterton, die Sache mit unseren Eltern hätte mich in der Sicht wohl nachhaltig geschädigt. Ob dem wirklich so war, wusste ich nicht. Ich wollte einfach ihre Fragen abwehren.

Niedergeschlagen kehrte ich um. Diesmal ging ich an der Essensausgabe entlang und riskierte einen Blick zu der Theke. Anhand des Geruchs konnte ich sagen, dass es mittlerweile weniger als eine Stunde dauern würde, bis das Essen hier aufgetischt wurde.

Der größere Zeiger der Uhr über den doppelflügligen Türen stand kurz vor der zehn. Gleich würde es zum Unterricht klingeln. Also ging ich zu der schlichten, grauen Eingangstür und behielt die Schüler im Auge, die von draußen hereinkamen.

Es war tatsächlich schwieriger als gedacht, einen einzelnen Schüler aus der Masse herauszupicken.

Müde stützte ich mich mit dem Ellbogen an der Fensterbank ab. Der Pausengong ertönte, die Schlangen am Kiosk verliefen langsam im Sande.

Ich wollte schon aufgeben, da sah ich Tobias an den Schließfächern gegenüber. Ein Strom an Schülern riss mich mit sich in Richtung der Klassenräume, und dann sah ich bloß noch die verschiedensten Gesichter, die ich bisher noch niemals zuvor gesehen hatte, und farbige Rucksäcke jedweder Art.

Den Überblick verlor ich schnell. Irgendwer rammte mir versehentlich seinen Ellbogen in die Seite, doch ehe ich mit meinem Ellbogen zurück boxen konnte, lag er schon wieder zwei Schüler zurück.

Ich drehte mich im Gehen zu den Schließfächern um. Tobias und seine Freunden standen nicht mehr da.

Elena - Dem Bösen so nahWo Geschichten leben. Entdecke jetzt