Kapitel 68

312 29 3
                                    

Es vergingen zwei Wochen. Ich blieb zu Hause und verbrachte die Zeit, die ich hatte, bei meinem Bruder in der Garage. Er summte hin und wieder einige seiner selbst geschriebenen Songs. Sie waren eine gelungene Mischung aus Pop- und Rockmusik, die mir lange in den Ohren blieb.

Auch als Daniels Band wieder vorbeikam, blieb ich bei ihnen in der Garage. Für die Jungs war das kein Problem. So blieb ich an manchen Tagen stundenlang an meinem neuen Zufluchtsort. Besonders an den schlimmen Tagen, wenn ich bloß aus dem Fenster hinauszuschauen brauchte, um weinen zu können, rettete mich die Band.

Unsere Mutter betrat den Probenraum nie. Sie klopfte allerhöchstens an das kleine Fenster des Garagentors, um uns bescheid zu geben, dass das Mittagessen fertig war. Manchmal waren auch Daniels Bandmitglieder, seine besten Freunde, eingeladen. Die hatten immer Hunger, was meiner Mutter sichtlich gefiel. Sie liebte den Besuch, und ich liebte die Ablenkung.

»Jackie, willst du dich nicht bald mal umziehen?« Daniel riss mich aus meinen Gedanken.

Heute war der Schulball. Schlagartig hob ich den Kopf. Gequält ließ ich ihn wieder sinken und vertiefte mich erneut in den Kabelsalat, der vor mir auf dem Fußboden herrschte. Im Schneidersitz saß ich hier schon seit zwei Stunden. Das Entwirren der Kabel lenkte mich von den Gedanken an Elena, Tobias und Nick ab. Nick. Er hatte sich nicht bei mir gemeldet. Vermutlich war er längst mit der Taschenuhr über alle Berge.

Ich schluckte schwer.

»Dinge passieren« Daniel legte seinen Notizblock auf dem Tisch neben dem Mischpult ab, »Entweder ziehst du den Kopf weiterhin ein, oder du stellst dich dem, was dir so eine Angst macht, dass du bei jeder Bandprobe traurig in der Ecke sitzt.«

»Ich sitze nicht traurig in der Ecke.«, murmelte ich.

»Glücklich scheinst du aber auch nicht zu sein.« Mein Bruder drehte sich um. Dabei stieß er versehentlich gegen die Hi-Hat des Schlagzeugs. Er fluchte und hielt das vibrierende Becken schnell fest. Der helle Ton wurde leiser, bis er gänzlich verstummte. Das hatte mir Zeit zum Bedenken gegeben.

»Kannst du mir einen Gefallen tun?«, fragte ich.

Daniel nickte.

Ich reichte meinem Bruder das Ende eines Kabels, an dem er vorsichtig ziehen sollte. Er tat es, und das Kabel rutschte aus einer Schlaufe heraus, bis es frei auf dem Fußboden lag. Daniel legte es sofort zusammen und bugsierte es geschickt an seinen Platz neben dem Mischpult.

»Ich habe etwas sehr dummes getan.«, erklärte ich und zerrte an einem schwarzen Kabel mit glänzendem Klinkenstecker.

Daniel griff nach einem kleinen Hocker. Er zog ihn sich mit einer einzigen Bewegung heran und setzte sich darauf. »Schieß los«

»Nick hat diese wertvolle Taschenuhr, aber er hat sie nur, weil ich sie ihm gegeben habe. Ich habe ihm vertraut. Jetzt ist er mit der Uhr über alle Berge und ich weiß nicht, wie ich Elena jemals wieder in die Augen schauen soll.«, sagte ich leise.

»Weiß sie denn, dass du sie Nick gegeben hast?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Hat sie überhaupt eine Ahnung davon, dass die Uhr nicht verbrannt ist?«, wollte Daniel wissen.

Abrupt sah ich von den Kabeln auf. »Nein.«, sagte ich zögerlich.

»Wirst du ihr die Wahrheit sagen?« Daniel atmete tief ein, »Oder wirst du Nick schützen?«

»Wieso sollte ich ihn noch schützen?«, entgegnete ich mit erstickender Stimme.

Jetzt wurden Daniels Gesichtszüge weicher. Er beobachtete mich mitfühlend, während ich mit den Tränen kämpfte. Es war mir unangenehm, vor meinem Bruder wegen dem Jungen zu heulen, vor dem er mich immer gewarnt hatte.

»Sorry«, schniefte ich. Mein Herz brach von Sekunde zu Sekunde mehr.

»Gibt es keine Chance mehr, mit ihm zu sprechen?«, forschte mein Bruder nach.

Kopfschüttelnd blickte ich auf die Kabel hinab, die über meinen Beinen lagen. »Er hat sich für das Geld entschieden, und ich kann es ihm nichtmal verübeln. Wir haben ja alles, was wir zum Leben brauchen, er nicht.«

»Selbst dann gibt es andere Wege, als das Vertrauen von seinen Freunden zu missbrauchen.«, fügte Daniel vorsichtig hinzu.

Ich starrte die Kabel an. »Er hat mein Vertrauen nicht ausgenutzt. Ich war so blöd, ihm mein Vertrauen blind zu schenken. Dabei wusste ich, dass er Geld brauchte.«

Daniel sah mich schweigend an. In seinen Augen funkelte Zorn. Noch eine Kleinigkeit, und er würde aufspringen und zu seinem Auto laufen, um Nick aufzuspüren. Natürlich hätte ich es darauf ankommen lassen können, aber ich wollte Daniel nicht in die Sache reinziehen. Außerdem war es kindisch, sich hinter seinem älteren Bruder zu verstecken. Ich war immerhin fast erwachsen.

»Egal«, sagte ich also und setzte mich aufrecht hin. Mein Bruder schien verwirrt zu sein. Er drehte sich auf dem Hocker in die andere Richtung, um die Kabel, die ich bereits entwirrt hatte, an kleinen Nägeln, die wir in die Wand geschlagen hatten, aufzuhängen.

Kaum hatte ich das Gefühl, einigermaßen unsichtbar für Daniel geworden zu sein, sackte ich wieder in mir zusammen. Ich beobachtete ihn für einige Sekunden, bevor ich mich wieder dem Entwirren der restlichen Kabel widmete. Vielleicht sollte ich Elena vorerst gar nichts von der Taschenuhr erzählen. Oder von Nick. Ich wollte nicht, dass er von der Polizei verfolgt wurde, weil er dieses wertvolle Erbstück gestohlen hatte. Gleichzeitig wünschte ich ihm nichts sehnlicher, als dass er auf irgendeine Weise diesen Schmerz spüren würde, den ich wegen ihm fühlte. Verrat. Demütigung. Und selbst das könnte sich für ihn noch nicht einmal annähernd so schrecklich anfühlen wie für mich, weil er niemals etwas für mich empfunden hatte. Ihm war jeder Moment der Nähe bedeutungslos gewesen. Jedesmal, wenn wir miteinander gelacht hatten, hatte er mit größter Wahrscheinlichkeit bloß seinen Nutzen an der Sache gesehen. Ich war niemals jemand besonderes für ihn gewesen. Nicht einmal nach Jasmins Tod, als er meine Hand gehalten hatte.

»Wie kann jemand so eiskalt sein, dass er nach einem Mord immer noch seine Rolle weiterspielt und alle in seinem Umfeld täuscht?«, flüsterte ich mit Tränen in den Augen.

Daniel drehte sich um. »Was hast du gesagt?«

»Was?« Ich blickte irritiert zu meinem Bruder herüber und wischte mir die Tränen aus den Augenwinkeln.

»Ich denke, du solltest dich jetzt umziehen gehen.«, sagte er mit Nachdruck.

Ich strich mir die zerzausten Haare aus dem Gesicht. Dann stützte ich mich mit den Händen ab, um von dem Fußboden aufzustehen. Mein Rücken schmerzte von der ungeraden Haltung, die ich gerade noch gehabt hatte, und mein rechtes Bein war eingeschlafen.

Daniel tastete auf dem runden Bartisch nach seinem Schlüssel. Sein Finger schwebte bereits über dem Lichtschalter, als er noch ein letztes Mal seinen kontrollierenden Blick über die Instrumente und das Mischpult schweifen ließ. Das Keyboard lehnte senkrecht an der Wand, der Bass war in eine schwarze Ledertasche gehüllt, überall lagen Notenblätter herum und hingen Kabel oder Notizen an den Wänden. Hier wäre mir in zehn Jahren nicht aufgefallen, ob eine Kleinigkeit fehlte.

»Wir können gehen.« Daniel knipste das Licht aus und ich folgte ihm hinaus.

Elena - Dem Bösen so nahWhere stories live. Discover now