Kapitel 42

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Nachdem wir es bis zur Hauptstraße geschafft hatten, verlangsamten wir unser Tempo. Uns folgte niemand, als wir endlich in den Waldweg einbogen und das Haus von Elenas verstorbener Tante erreichten. Tobias schloss die Tür auf. Danach betraten wir der Reihe nach das Haus. Elena entledigte sich ihrer Jacke und Schuhe und ging direkt ins Badezimmer, wo sie sich einschloss. Nach einiger Zeit hörten wir das Rauschen von Wasser.

Ich hängte unterdessen unsere Jacken in die Garderobe und stellte die teils schlammverschmierten Schuhe auf die Fußmatte darunter, direkt neben ein paar saubere Pumps und orthopädische Schuhe, die völlig versandet waren. So, als wären sie vor kurzem noch benutzt worden.

Nick ließ Tobias und mich links liegen. Er ging in die Küche.

»Hier« Eilig zog ich den Brief von Elenas Tante aus meiner Jackentasche. Das Foto meiner Mutter beachtete ich nicht weiter, sondern schloss den Reißverschluss, bevor Tobias es sehen konnte.

»Bist du dir sicher, dass ich ihr den Brief geben soll?«, flüsterte Tobias.

Ich nickte.

Unglücklich nahm Tobias das Testament in die Hand und setzte sich anschließend auf die untersten Stufen der Treppe. Er brauchte jetzt ein bisschen Zeit für sich, das sah ich ihm an. Also ging ich in die Küche.

Nick saß mit dem Rücken zu mir auf einem der Küchenstühle. Gedankenverloren starrte er die Spitzengardinen an, die vor dem Fenster hingen. Sie waren so hauchdünn, dass ich dachte, bei nur einer Berührung würden sie in all ihren Einzelteilen herunter rieseln wie Sand.

»Du hast mir Angst gemacht.«, sagte ich.

Abrupt drehte Nick seinen Kopf zu mir.

»Mein Vater hat nicht nur getrunken. Er hat uns geschlagen.«, erzählte ich mit dünner Stimme.

Nicks Miene veränderte sich schlagartig. Seine Gesichtszüge wurden weich, aber die Anspannung fiel nicht von ihm ab. Vielleicht verstärkte sie sich sogar.

»Er hat dich geschlagen?«, fragte Nick in die Stille hinein.

»Vor allem meinen Bruder.« Ich trat näher, »Er hat mich immer beschützt, aber manchmal wünschte ich mir, unser Vater hätte lieber mich geschlagen. Damit klarzukommen erscheint mir einfacher als immer daran denken zu müssen, dass ich bloß hilflos zugesehen habe.«

Instinktiv stand Nick von seinem Platz am Fenster auf. Der Abstand zwischen uns verringerte sich mit jeder Sekunde.

»Deshalb hast du mich gefragt, wieso ich mich geschlagen habe.« Die Erkenntnis schien Nick umzuhauen. Er hielt inne und guckte mich sanft an. »Aber wieso hast du mich vorhin und auch gerade eben nicht einfach abgeschrieben, wenn dir das Thema so eine Angst macht?«

Weil du mir wichtig bist.

Ich zuckte mit den Schultern. »Weil ich niemand bin, der andere Menschen abschreibt.«

»Weißt du, warum ich mich lieber schlage als tatenlos dazustehen?« Nick atmete tief durch.

Kopfschüttelnd sah ich ihn an. Auf seiner Wange bildete sich ein Bluterguss. An seinen Schläfen klebte Blut. Ich wünschte, ich hätte etwas getan. Ich wünschte, der Anblick von Schlägen würde mich nicht so lähmen.

»Als meine Eltern gestorben sind, war ich hilflos. Da habe ich beschlossen, dass ich mich nie wieder so fühlen will. So klein, einsam und ängstlich.« Nick sprach leise, »Ich wollte kein Opfer mehr sein.«

Dass er sich mir gegenüber öffnete, warf mich ziemlich aus der Bahn. Ich hatte gedacht, das würde er nie wieder tun. Verständnisvoll sah ich ihm in die Augen. Wir waren uns noch nie so nah gewesen. Schmetterlinge schwirrten in meinem Bauch.

»Brauchst du ein Pflaster für die Wunde?«, flüsterte ich.

»Geht schon.« Nick tastete seine Schläfe ab. Als er die blutige Stelle erreichte, zuckte er fast unmerklich zusammen. Er verzog sein Gesicht wegen des Schmerzes.

Ich nahm ein Tuch von der Küchenrolle und befeuchtete es mit Wasser. Nick wich nicht zurück, als ich seine Wange berührte. Ein Kribbeln breitete sich auf meiner Haut aus. Meine Hand zitterte, während ich mit dem feuchten Tuch das Blut von Nicks Haut wischte. Die Wunde war nicht tief. Sie würde bald verheilen.

Hinter uns hörte ich Schritte auf dem knarrenden Boden. Ich ließ meine Hand sinken. Nick wandte sich ab.

»Kommt ihr ins Wohnzimmer?«, fragte Tobias.

»Lasst uns in der Küche bleiben.« Elena schob sich an ihm vorbei. Sie duftete nach frischem Duschgel und trug einen schwarzen Strickpullover, der ihr an den Ärmeln viel zu weit war. Der Pullover musste ihrer Tante gehört haben.

Elena setzte sich auf den Küchenstuhl, auf dem Nick bisher gesessen hatte. Ihre Augen waren von dunklen Schatten untermalt. Sie hatte Blutergüsse an der Schulter, die ich sehen konnte, wenn der Pullover etwas verrutschte. Kratzer zierten ihr Gesicht und ließen ihre sonst so makellose Haut an einigen Stellen besorgniserregend gerötet und geschwollen aussehen.

Tobias ging zum Wasserkocher. Er füllte ihn mit Wasser aus dem Hahn und stellte ihn an. Immer wieder guckte er zu Elena, als wollte er etwas sagen, sie in den Arm nehmen und nie wieder loslassen. Doch sie saß nur abwesend mit angezogenen Beinen auf ihrem Stuhl, blickte ins Nichts und kaute wie traumatisiert an ihren Fingernägeln.

Nick und ich setzten uns jeweils auf einen der Küchenstühle. Das Wasser im Wasserkocher blubberte. Tobias nahm vier Becher aus dem Schrank und hängte eben so viele Teebeutel hinein. Nun stellte er vor jeden von uns einen Becher. Er goss das heiße Wasser ein und sofort erfüllte der Duft nach Hagebutte den Raum. Es war nicht so, dass uns dieser Geruch wachgerüttelt hätte. Er war eher beruhigend, doch wir konnten uns trotzdem nicht entspannen.

»Er wird herkommen.«, murmelte ich.

Tobias nickte.

»Natürlich. Wir haben ihm sein Druckmittel weggenommen.« Nick legte die Hand um den dampfenden Becher, »Früher oder später taucht er hier auf und wenn wir die Taschenuhr bis dahin nicht haben, sind wir erledigt.«

»Nett, dass du Elena als Druckmittel bezeichnest.«, sagte Tobias.

Nick trank einen Schluck von dem Tee. »Ich sage nur, wie es ist.«

Elena stützte den Arm auf dem Tisch ab. Einige nasse Haarsträhnen fielen ihr ins Gesicht. Sie sah aus wie ein Geist.

»Wir sollten für heute Pause machen.«, überlegte ich.

»Ja, lasst uns was essen und bald schlafen gehen.«, sagte Tobias und trank seinen Tee in schnellen Zügen aus.

Elena - Dem Bösen so nahWhere stories live. Discover now