Kapitel 70

342 28 4
                                    

Am liebsten wäre ich durch die Glastüren hinausgelaufen und abgehauen. Ich wischte mir die Tränen von den Wangen. Meine Atmung ging schwer und ich lehnte mich mit dem Rücken gegen eine Stütze, die vor den Spinden stand.

Langsam kehrte Ruhe ein. Ich entspannte mich. Zu atmen fiel mir leichter, mein Herzschmerz fühlte sich weniger heftig an, aber längst nicht so, als könnte er irgendwann gänzlich verschwinden.

»Jackie« Elena steuerte auf mich zu. Bewundernd musterte ich sie. Ihr Kleid wirkte von nahem noch viel schöner. Das dunkle Blau schmeichelte Elenas Figur und die Silberkette mit dem filigranen Anhänger unterstrich diesen Effekt. Ihre Schultern waren wie bei einem T-Shirt bedeckt. Pailletten zierten das Kleid bis zur Taille, von wo aus der glänzende Stoff bis auf den Boden fiel. Jedes Mal, wenn ein Lichtstrahl vom Parkplatz durch die Türen hineinfiel, glänzten und schimmerten die Pailletten in ihrem dunklen Blauton und zogen alle Aufmerksamkeit auf sich.

»Wir beide müssen reden.«, sagte Elena. Sofort erinnerte ich mich daran, wie Tobias ihr etwas ins Ohr geflüstert hatte. Sein Gesichtsausdruck, als er Elena nachgesehen hatte, würde mir immer im Gedächtnis bleiben.

»Ist zwischen Tobias und dir alles in Ordnung?«, fragte ich nach.

»Ja, klar« Elena spielte nachdenklich mit dem silbernen Armband an ihrem Handgelenk. Es hatte einen Herzanhänger. »Bei uns ist alles super.«

»Dann ist doch alles gut?« Ich gab mein Bestes, um stark und selbstsicher zu klingen.

»Das ist es nicht«, begann Elena.

Fragend guckte ich sie an.

»Wo ist Nick? Wieso ist er nicht hier?« Elena schaute sich suchend um.

Nick. Ich vermisste es, seinen Namen zu hören. Es rief Erinnerungen in mir wach, die ich verdrängt hatte; In dem Arbeitszimmer von Elenas Tante auf dem Fußboden zu sitzen und mit Nick über abgelaufene Suppe zu reden ... Auf eine unbekannte Art und Weise glücklich zu sein, einfach, weil er da war.

»Du willst mit mir über Nick reden?« Ich klang heiser. »Er hat sich nicht mehr bei mir gemeldet, seitdem wir am Haus deiner Tante waren.«

Ich ertappte mich dabei, wie ich mich fragte, ob es Nick wohl gut ging. Vielleicht war ihm auch etwas zugestoßen. Mit einem Mal machte ich mir Sorgen. Wieso hatte ich nicht vorher daran gedacht, dass er sich eventuell nicht meldete, weil es ihm schlecht ging?

»Ich muss zurück zu dem Haus deiner Tante.«, sagte ich plötzlich. Vor meinem geistigen Auge sah ich Nick im Wald liegen, zitternd vor Kälte und ... einsam, weil ich nicht an diese Möglichkeit gedacht hatte. Schuldgefühle trieben mir Tränen in die Augen. »Ich muss zurückgehen.«, stammelte ich. »Ich muss ihn finden.«

»Was? Warum?« Elena hielt mich am Arm zurück als ich loslief.

»Nick. Er konnte sich gerade noch aus dem Haus retten. Er hatte Schmerzen ... Was ist, wenn er noch irgendwo da draußen ist?«

Elena atmete geräuschvoll aus. »Warst du nicht bis zum Ende bei ihm?«

»Nein. Adrian wurde verhaftet. Danach sind Luise und ich zusammen weggegangen.«, erzählte ich schuldbewusst. Sollte ich Elena sagen, dass ich nicht hatte zurückgehen können, weil ich Nick die Taschenuhr überlassen hatte? Als Versicherung dafür, dass Elena sie wiederbekommen würde und sie nicht in die falschen Hände geriet? Oder sollte ich schweigen?

»Weshalb hast du denn nicht auf Nick gewartet?«, rief Elena aufgebracht. »Er hat doch auch auf dich aufgepasst!«

»Das hat er nicht!«, entfuhr es mir lauter als gewollt. Oder hatte Nick auf mich aufgepasst und ich hatte es falsch interpretiert, weil ich dachte, er wäre abgehauen, obwohl er noch immer irgendwo im Wald lag?

Elena - Dem Bösen so nahWhere stories live. Discover now