Kapitel 6

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Nach Schulschluss lief ich hinter der Sporthalle einen schmalen Trampelpfad entlang, den vor allem Schüler in den Pausen nutzten. Der Pfad führte mich direkt zu dem gepflasterten Weg an einer Hütte und dem Schulgarten vorbei. Ich hörte das Krähen eines Hahns, der mit vier Hühnern auf dem Gelände lebte, und das Plätschern von Wasser. Von hier aus konnte ich den kleinen Teich, den die Biogarten-Arbeitsgemeinschaft im letzten Frühjahr angelegt hatte, gerade noch erkennen. Dann ging ich weiter, und das Gestrüpp versperrte mir die Sicht.

Ich steuerte den Nebeneingang der Bibliothek an. In meinem Augenwinkel sah ich zwei Schülerinnen, die mich schnell überholten und vor mir das Gebäude durch die Glastür betraten. Sie redeten und lachten, sodass ich mich fast ein wenig einsam ... und auch erschöpft fühlte.

Bei diesen Gedanken musste ich inne halten. Sie wühlten mich so sehr auf, dass mir Tränen in die Augen zu treten drohten. Hastig rieb ich mir über die Augen, und machte auf dem Absatz kehrt. Ich erschrak, als ich in das Gesicht des Jungen mit dunkelbraunem Haar blickte, dem ich vorgestern beinahe die Tür an den Kopf geknallt hätte. Er stand auf der anderen Seite des Weges, die Hände in den Taschen seiner schwarzen Winterjacke. Seine untere Lippe war aufgeplatzt und wirkte leicht geschwollen, als hätte der Junge gerade erst einen kräftigen Schlag abgekriegt. Unter seinem Auge befand sich außerdem ein Bluterguss, der in einem tiefen, grünbläulichen Ton schimmerte.

Ich dachte, den Jungen bei Tobias letztem Fußballspielen gesehen zu haben, aber ich konnte mich ebenso gut irren. Sicher war ich mir nur darin: Je länger ich meinen Gegenüber ansah, desto weniger sympathisch erschien er mir. Durch seinen kühlen Blick, diese undurchdringliche Maske, konnte ich nicht deuten, was er vielleicht dachte oder fühlte, und das jagte mir Angst ein. Es war, als stünde ich einem wilden Tier gegenüber; niemals gefasst darauf, was als nächstes passierte.

Der Junge machte einen Schritt zurück und wandte sich ab. Ich griff nach dem Türgriff und zog die schwere Glastür auf.

In der Bibliothek war es angenehm leise, sodass ich ganz entspannt durch die Reihen an hohen Regalen schlendern und mir in Ruhe einige Bücher heraussuchen konnte.

Eine Lehrerin grüßte mich leise, als ich in meiner Tasche wühlte, um meinen Bibliotheksausweis zu finden. Ich schaute abrupt auf, wobei der Stapel mit Büchern, der vor mir auf einem der Gruppentische lag, gefährlich ins Schwanken geriet. Reflexartig griff ich nach den obersten drei Büchern und eröffnete einen neuen Bücherstapel.

Wenn ich durch die bodentiefen Fenster hinaussah, sah ich den Schnee rieseln. In meiner linken Hand hielt ich ein Buch, welches am Meer spielte. Es war ein Krimi. Dieser handelte von einem Mann, der am Wattenmeer wohnte und eine Hotelkette leitete. Bei Ebbe war er im Watt verschwunden, seine Leiche fanden Touristen einige Tage später. Schnell hatte festgestanden, dass es sich um einen Mord handelte. Der Tote war nicht ertrunken.

Bis dahin hatte ich bereits gelesen. Die Beschreibungen der Landschaft waren beeindruckend. Ich konnte mir bildlich vorstellen, wie das Watt von Prielen und Rinnen durchzogen war. Selbst die Schafherden konnte ich vor meinem geistigen Auge sehen, oder den klebrigen Schlick zwischen meinen Zehen fühlen, sobald ich die Worte des Autors las. Er wickelte mich geschickt um den Finger. Ich fühlte die Angst, die Gefahr und das stetige Risiko, das er mir vermitteln wollte.

»Tobias!« Eine fremde Stimme riss mich aus meinen Gedanken.

Ich blickte auf, und sah meinen besten Freund mit seinen Freunden an einem anderen Gruppentisch sitzen. Er starrte grinsend auf sein Smartphone, bevor er es in die Runde hielt.

Lachend stürzte sich einer seiner Kumpels auf das Handy. »Dann ist ja bald ein Platz im Team frei, was?«, feixte er. Sie hoben ihre Köpfe und sahen geradeaus.

Die hohen Bücherregale versperrten mir die Sicht. Ich rückte mit meinem Stuhl ein Stückchen nach hinten. Gegenüber von Tobias saßen drei weitere Jungs. Einer von ihnen war der Junge mit der aufgeplatzten Lippe und dem Bluterguss, den ich vorhin gesehen hatte. Er gehörte tatsächlich zu Tobias Freunden.

»Ihr seid so nervig.«, hörte ich einen von ihnen sagen.

Tobias tippte auf seinem Handy.

Der Junge mit der aufgeplatzten Lippe runzelte die Stirn. Dann stand er auf, und schüttelte müde seinen Kopf. »Tolle Freunde hab ich.« Er ging.

Bevor mich Tobias bemerkte, richtete ich meinen Blick wieder in das Buch, welches ich in beiden Händen hielt. Die Jungs packten ihre Sachen. Sie riefen dem Dunkelhaarigen nach, er solle stehenbleiben, aber der ignorierte seine Freunde.

»Es war nicht so gemeint, Mann!«, rief einer der Jungs.

Langsam mussten sie in Richtung Ausgang verschwunden sein, also sah ich von meinem Buch auf. Tobias Blick streifte mich plötzlich und unvorbereitet. Er stand neben einem der hohen Bücherregale und schob sein Smartphone in die Tasche seines Mantels.

Ertappt blickte ich wieder in das Buch. Ich konnte keine Zeile lesen, ohne, dass ich darüber nachdenken musste, wer mich gerade anstarrte. Wieso sagte Tobias denn nichts? Es war mein Geburtstag, er war mein bester Freund ...

Vielleicht schämte sich Tobias für diese Freundschaft, weil ich ein Mädchen war. Oder wir lebten uns auseinander. An den hohen Ansprüchen seines Vaters konnte dieses plötzliche Schweigen jedenfalls nicht liegen, denn mit seinen Kumpels sprach Tobias noch immer.

Seine Freunde waren eine Clique bestehend aus Jungs, die überwiegend in dem gleichen Fußballteam spielten. Darunter waren welche aus der Mittelschicht, jedoch auch zwei oder drei Jungs, die in einem anderen, viel düsteren Viertel aufgewachsen waren. Man erkannte es an ihrer Art, Dinge zu regeln, oder auch, welch ein Respekt ihnen von anderen Schülern entgegengebracht wurde. Meiner Meinung nach sollte es eher im Interesse von Tobias Vater liegen, Freundschaften seines Sohnes mit solchen Jungs, als mit einem Mädchen wie mir, zu unterbinden.

Zum Glück hatte sich mein Vater nie in meine Freundschaften eingemischt Mit jedem schulischen Problem war ich zu meiner Oma gegangen. Sie hatte immer verstanden, wenn ich ihr erzählt hatte, wie es war, jeden Tag auf dieses Gelände, in dieses graue Gebäude, hineinzugehen, und niemals zu wissen, was einen erwarten würde. Vielleicht hatten sich einige Mitschülerinnen am Vorabend getroffen und nun gluckten sie im Klassenzimmer, darauf gefasst, einen mit den neusten Gerüchten zu konfrontieren. Und man konnte nur verlieren. Aber das verstanden nur diejenigen, die nicht dazugehörten. Diejenigen, die genau wussten, wie sich das anfühlte.

Ich spürte, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete.

Unter meinen Daumen konnte ich die Seiten des rauen Papiers fühlen. Am liebsten hätte ich den Kopf in das Buch sinken lassen, in der Hoffnung, unsichtbar zu werden.

»Tobias« Ich richtete meine Augen dorthin, wo er zuletzt gestanden hatte.

Er war weg.

Seufzend klappte ich das Buch zu. Ich liebte den Geruch von Bibliotheken, und den von Büchern, doch heute konnte mich nichts mehr hier halten. Meine Konzentration war futsch. Selbst die Lust auf diesen Krimi war verloren.

Also packte ich meine Sachen, entschied mich für drei der Bücher von meinen beiden Bücherstapeln und machte mich auf den Weg zur Bibliothekarin.

Der Heimweg zog sich scheinbar endlos in die Länge. Irgendwann holte ich meine Kopfhörer aus der Tasche und steckte sie mir in die Ohren. Die Musik lenkte mich ab, aber sie schaffte es nicht, die Gedanken aus meinem Kopf zu löschen. Sie waren mein ständiger Begleiter.

Ich vergrub meine Finger tief in den Taschen meiner Jacke. Der Zettel aus Elisabeths Uhr raschelte, als ich ihn berührte. Ohne nachzudenken, holte ich ihn hervor und blieb mitten auf dem Bürgersteig stehen.

Der Zettel war mehrfach gefaltet und vergilbt wie altes Zeitungspapier.

Vorsichtig faltete ich das raue Papier auseinander. Eine saubere Handschrift kam zum Vorschein. Die Tinte war an einigen Stellen verwischt.

»In Liebe, Luise«, las ich stumm und hob skeptisch meine Augenbrauen.

Schnee wehte mir ins Gesicht. Ich schaltete die Musik lauter, und stopfte den Zettel zurück in meine Tasche.

Elena - Dem Bösen so nahWhere stories live. Discover now