Kapitel 72

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Tobias nahm Elenas Hand, sodass sie sich nicht in der Menge an Schülern verlieren konnten. Im Eilschritt liefen sie auf Nick und mich zu. In diesem Augenblick wurde die Musik leiser und auf der Tanzfläche fanden sich die ersten Paare zusammen. Mein Herz bebte. Nick berührte mich kurz an der Schulter, aber ich schob mich bloß an den Schülern, die im Eingang zur Sporthalle standen, vorbei und begann unmittelbar danach zu rennen. Ich musste hier weg. Ich musste nach Hause.

Wie in Trance sprintete ich durch die dunklen Flure unserer Schule. Keuchend stieß ich die Glastür auf. Die beißende Luft ließ mich erschaudern und Nicks Schritte hinter mir dröhnten in meinen Ohren. Er war mir dicht auf den Fersen, also legte ich an Tempo zu, obwohl sich bereits ein schmerzhaftes Stechen in meiner rechten Seite ankündigte. Meine Beine machten die Bewegungen fast automatisch. Erst an der Treppe zum Parkplatz hinunter, schaffte ich es, zu bremsen, bevor ich stürzte. Meine Atmung ging viel zu schnell, während mein Herz wie verrückt gegen meinen Brustkorb hämmerte.

Auf dem Parkplatz hupte jemand. Mein Blick schnellte zu dem Geländewagen. Dann griff ich nach dem Geländer und rannte die Treppe hinunter und über das eingeschneite Pflaster, bis hin zu den Parkplätzen. Die Fahrertür des grauen BMWs wurde geöffnet. Tobias deutete auf die Hintertüren, also zog ich an dem Griff und sprang in den Wagen rein. Auf der anderen Seite stieg Nick ein, und kurz darauf fuhr Tobias so schnell, wie es unter den Wetterbedingungen möglich war, vom Parkplatz.

Auf der Hauptstraße war schon gestreut worden, sodass Tobias beschleunigte. Meine Augen hafteten permanent auf der Fensterscheibe. Leitplanken zogen an uns vorbei. Bäume verschwanden in der Dunkelheit, ebenso wie die Leitpfähle. Die Gräben waren eingeschneit und die Zweige der Bäume vereist.

Langsam tauchten die ersten Häuser auf. Lichterketten erhellten Grundstücke, die für gewöhnlich in dieser Jahreszeit im Dunkeln lagen. Und dann sah ich Blaulicht. Grell blendete es uns, als Tobias im Schritttempo in meine Straße einbog. Sofort drückte ich die Türöffnung. Ohne nachzudenken, sprang ich aus dem Auto raus. Beinahe verlor ich das Gleichgewicht auf dem vereisten Gehweg. Mindestens drei Polizeiwagen standen vor unserem Haus. Das Blaulicht hatte die Nachbarn geweckt, die nun in ihren hell beleuchteten Schlafzimmern standen, um herauszugucken. Ich hätte jeden von ihnen für ihre Neugier umbringen können.

Hastig drückte ich das Gartentor auf und stürmte auf unser Grundstück. Das Motorengeräusch von Tobias Wagen verstummte allmählich irgendwo in der Düsternis. Dann klappte die Haustür vor mir auf. Eine Polizistin in Uniform und mit Pferdeschwanz trat aus unserem Haus heraus. Schwer atmend steuerte ich auf die Tür zu, um mich an ihr vorbeizuschieben, doch die Frau reagierte blitzschnell. Ihre Hände hielten mich an den Schultern zurück.

»Nein«, murmelte ich und wehrte mich zuerst zaghaft und schließlich heftiger. Tränen schossen mir in die Augen. »Nein!«

Sie schlang ihren Arm geschickt um meinen Körper und zog meinen Rücken dicht an sich heran. Wut entflammte in mir. Ich begann, um mich zu schlagen, doch konnte in dieser Position niemanden treffen. Zappelnd und wimmernd versuchte ich, ihr meine Arme zu entreißen, als etwas anderes meine Aufmerksamkeit erregte. Daniel kam aus dem Haus heraus. Sofort lief er auf mich zu. Die Polizistin lockerte ihren Griff, ehe sie mich losließ, und ich Daniel schluchzend in die Arme fiel.

Weitere Polizisten verließen unser Haus. Zwei von ihnen gingen rechts und links von unserer Mutter. Ihre dunkelblonden Haare hingen ihr wirr ins Gesicht. Die Handschellen glänzten im Licht des Mondes und dem ewig blauen Blinken der Streifenwagen. Daniel löste sich von mir. Der Schnee knirschte unter den Sohlen der Beamten. Bei uns blieben sie stehen, und unsere Mutter hob für wenige Sekunden den Kopf. Bedauern erfüllte ihren Blick. Schmerz. Sehnsucht. Angst. Liebe. Vielleicht zu viel von alledem, sodass es sie unweigerlich in den Abgrund gerissen hatte.

Die Polizisten zogen unsere Mutter mit sich und sie wehrte sich nicht. Aufgewühlt blickte ich zur Seite und entdeckte Tobias, Elena und Nick. Sie standen reglos da, neben unserem Gartentor, halb benommen, halb mitfühlend. Tränen brannten auf meinen Wangen. Scham für meine Familie erfüllte mich und schließlich schämte ich mich dafür, dass ich mich überhaupt zu schämen wagte.

Binnen Sekunden hatten die Polizisten vorsichtig den Kopf unserer Mutter heruntergedrückt und sie in das blinkende Auto befördert. Der Schmerz in mir heizte mich auf, sobald die Kälte mich fast erfrieren ließ. Ich starrte den Streifenwagen an, der in unserer von Blaulicht erhellten Straße herausstach wie ein außergewöhnliches Insekt. Mir fielen die Nachbarn von gegenüber auf. Noch immer im Pyjama standen sie nun auf der Straße und beäugten mich. Die Frau trug einen geflochtenen Zopf und Schürze, der Mann sah aus, als hätten wir ihn beim Abendessen gestört.

Mit einer einzigen Handbewegung klappte die Beamtin die Hintertür des Autos zu, und ließ meine Mutter hinter einer getönten Scheibe verschwinden. Reflexartig machte ich einen Schritt nach vorne. Ich wollte meine Mutter zurück. Ich wollte meine Mama, von der ich gar nichts anderes erwartet hatte, als dass sie mich eines Tages wieder verlassen und im Stich lassen würde wie immer. Trotzdem liebte ich sie. Ich liebte sie, und ich hasste sie.

Die Polizisten stiegen in ihre Wagen. Als sie davonfuhren, nahmen sie mir den Rest meiner Eltern; meine Mutter. Schlagartig verkrampfte ich mich. Ich hatte das Gefühl, gleich würden mir die Beine unter dem Körper wegsacken. Ein dumpfer Schmerz malträtierte meinen linken Brustkorb, während ich mich aus verzweifelten Augen in unserer Straße umsah. Einige Blicke trafen mich. Es war, als wollten sie mich durchlöchern.

Nick trat neben mich und ich wusste, er verstand mich besser als jeder andere. Dann zog er seine Winterjacke aus, obwohl es bitterkalt war, und legte mir diese um die beinahe eingefrorenen Schultern. Ich konnte nicht anders, als meine Arme um ihn zu legen und mich einfach an ihm festzuhalten. Mit der Wange an dem Stoff über seiner warmen Brust und den Händen an seinem Rücken schloss ich die Augen. Nick legte seine Arme fest um meinen Körper, und er hielt mich fünf Minuten, zehn Minuten und auch die halbe Stunde, die ich brauchte, bis sich meine Atmung reguliert und die stummen Tränen allmählich getrocknet waren.

Die Fragen meines Bruders zu Stefan und Elisabeth und die Antworten unserer Mutter spielten sich in Dauerschleife in meinem Kopf ab. Selbst der Tod meines Vaters rief sich mir wieder ins Gedächtnis. Der altbekannte Geruch von Alkohol stieg mir in die Nase, obwohl sich weit und breit kein einziger Tropfen befand. Ich schmeckte Blut, auch wenn mich heute niemand geschlagen hatte.

Schritte näherten sich. Sie rissen mich zurück in die Wirklichkeit.

»Hey, Nick«, hörte ich meinen Bruder sagen. Er klang gefasst.

Nick verspannte sich ein wenig.

»Ich rufe Nina an, unsere Schwester. Falls du ... noch ein bisschen bleiben willst, kannst du gerne reinkommen.«, sagte Daniel leise.

Stille. Eine Sekunde verging. Zwei Sekunden vergingen ...

»Schon gut« Nick bewegte sich einen Millimeter. Ich wagte es nicht, auch nur einen Blick zu riskieren. Am liebsten wäre ich unsichtbar geworden. Ich wollte keine Töne mehr hören, keine Fragen beantworten und mich nicht fühlen, wie ich mich fühlte.

»Danke«, fügte mein Bruder gedehnt hinzu. Ich spürte seinen besorgten Blick kurz auf mir haften. Danach erklangen seine Schritte im knirschenden Schnee.

Nick bewegte seinen Daumen ein wenig auf meinem Rücken und sein Atem streifte meinen Nacken. Ich öffnete meine geschwollenen Lider ein stückweit. Der Himmel war vollkommen klar. Die Sterne über uns leuchteten wie abertausende, kleine, funkelnde Diamanten und der Mond schien hell auf uns hinab. Dann, in einer friedlichen Ruhe, brach die Nacht an, und mit ihr ein neues Kapitel meines Lebens.

Elena - Dem Bösen so nahWhere stories live. Discover now