16. Kapitel

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16. Kapitel - Ein Ausweg

Der Notausgang ist nicht immer ein Ausweg.

- Stefan Schütz

„The light of the dawn has no meaning", sang mein Handy schon zum dritten Mal an diesem Morgen. Ich zog die Decke über meinen Kopf und steckte ihn zusätzlich unter das Kopfkissen. Ich hatte keine Lust aufzustehen. Ich wollte weder mein Bett, noch das Haus verlassen.

„Lilly, steh auf!", rief mein Dad.

„Ja, ja", murmelte ich und fuhr mir müde über das Gesicht.

Die Nacht war einfach viel zu kurz gewesen. Meist hatte ich mich von einer Seite auf die andere gewälzt, während meine Gedanken abwechselnd bei meiner Mum und bei Leo waren. Moment. Dad? Ich sprang aus dem Bett, zog mir meinen Bademantel im Gehen über und lief in die Küche.

„Dad, was machst du hier? Du musst doch arbeiten. Oder?"

Mein Vater sah mich an, reichte mir eine Tasse Kaffee und schüttelte den Kopf.

„Ich habe mich beurlauben lassen. Ich fahre zu deiner Mutter ins Krankenhaus."

Heftig knallte ich die Tasse auf die Anrichte aus Granit, sodass der Kaffee über den Rand schwappte.

„Das kannst du nicht machen! Du musst zur Arbeit und herausfinden, ob es Neues von Leo gibt! Wir wissen, wo Mum ist und wir wissen, dass man sich um sie kümmert! Aber bei Leo wissen wir das nicht!", schrie ich meinen Vater völlig außer mir an.

Dieser verschluckte sich vor Erstaunen über meinen Wutausbruch an seinem Brot und hustete dröhnend. Als er wieder Luft bekam, sah er mich traurig an.

„Lilly. Ich weiß, du machst dir Sorgen um Leo. Die mache ich mir auch. Aber ich kann nichts tun. Sobald jemand etwas weiß, werde ich benachrichtigt", versuchte er mich zu beruhigen.

„Nein! Du kannst Mum nicht helfen! Aber ihm schon. Du könntest dich an der Suche beteiligen!", fuhr ich ihn erneut an.

Ich war die Einzige in diesem Raum, die wirklich nichts tun konnte, und ich hasste es. Wie konnte er sich dagegen entscheiden, seinen einzigen Sohn zu suchen und lieber bei seiner Frau zu bleiben, die wohlbehütet im Krankenhaus lag? Mein Dad sah das Ganze wohl etwas anders. Er kam zu mir und wollte mich umarmen.

„Lass mich!", fauchte ich ihn an und stürmte zurück in mein Zimmer.

Im Eiltempo machte ich mich fertig und schnappte mir dann meine Tasche. Dann kehrte ich zurück in die Küche. Mein Dad war bereits weg. Ich musste dringend etwas essen und brauchte Koffein. Schließlich floss bereits seit meinem fünfzehnten Lebensjahr kein Blut, sondern Kaffee durch meine Adern. Ich schmierte mir ein Brötchen und stürzte zwei Tassen Kaffee hinunter. Dann schnappte ich mir die Autoschlüssel und fuhr zur Schule. Auf dem Parkplatz saß ich noch eine Weile wie betäubt in meinem Wagen. Es war ohnehin noch viel zu früh. Ich hatte mich fast wieder beruhigt, als jemand die Beifahrertür aufriss. Erschrocken schnappte ich nach Luft und legte mir eine Hand auf mein wild pochendes Herz.

„Was bist du denn heute so schreckhaft?", fragte Hanna und ließ sich auf den Sitz fallen.

„Weiß nicht", murmelte ich.

Besorgt musterte sie mich. Wir kannten uns schon seit Jahren. Sie wusste sofort, wenn irgendwas nicht mit mir stimmte.

„Was ist los?", fragte sie eindringlich.

Ich sah sie nicht an, während ich ihr von meinem Bruder und meiner Mum erzählte. Als ich fertig war, zog Hanna mich in ihre Arme und drückte mich ganz fest. Nach einer halben Ewigkeit, die mir dennoch viel zu kurz vorkam, ließ sie mich los.

„Was machst du dann bitte hier?", fragte sie mich vorwurfsvoll.

„Ich gehe zur Schule", sagte ich.

„An deiner Stelle würde ich mich im Bett verkriechen und nie wieder rauskommen."

Ich schnaubte. Ja, das würde ich auch gerne. Aber ich war jetzt anders. Stärker. Ich konnte mir den Luxus eines Zusammenbruchs nicht leisten.

Gemeinsam mit Hanna überstand ich den Schultag irgendwie. Danach fuhr ich sie nach Hause, weil es ohnehin auf dem Weg zu Kyle lag. Als sie mich fragte, warum ich sie fuhr, sagte ich nur, weil ich ihr einen Gefallen tun wolle. Von Kyle wollte ich ihr nichts erzählen. Noch nicht. Zu groß war meine Angst, was sie dann über mich denken könnte. Ich fand es selbst schon seltsam genug, dass ich ausgerechnet jetzt mit einem Typ anbandelte.

Kyle stand an der Straße und wartete schon auf mich. Ich fuhr rechts ran und wartete, bis er eingestiegen war. Dann fädelte ich mich wieder in den fließenden Verkehr ein und fuhr in Richtung Krankenhaus.

„Und du bist sicher, dass du mitkommen willst?", fragte ich ihn, während ich versuchte, auf den Highway aufzufahren.

„Ja. Aber bist du sicher, das du hin willst?", fragte er.

Ich hupte einen Autofahrer an, der mich geschnitten hatte und fluchte laut, bevor ich antwortete:

„Nein. Ich ertrag es nicht, sie so zu sehen. Sie war immer ... stark und jetzt liegt sie lädiert in diesem Bett. Außerdem hab ich mich mit meinem Dad gestritten. Ich will ihn nicht treffen."

Wir fuhren eine Weile schweigend weiter. Anscheinend wusste Kyle nicht, was er dazu sagen sollte. Ich wusste es im Grunde selbst nicht. Mein Leben zerfiel gerade in tausend Teile und ich konnte nichts dagegen tun.

„Fahr hier ab", meinte er unvermittelt und riss mich aus meinen deprimierenden Gedanken.

Ich fragte gar nicht erst warum. Ich war froh, dass er mich darum bat. Dass er mir einen Ausweg bot. Er lotste mich zielsicher durch die Straßen von L.A. Nach einer halben Stunde Fahrt hielten wir nahe am Ozean. Als wir ausstiegen, hielt ich kurz inne und genoss den überwältigenden Anblick. Denn obwohl ich am Meer aufgewachsen war, konnte ich mich nicht daran satt sehen.

„Komm", sagte Kyle und streckte mir die Hand entgegen.

Gemeinsam liefen wir zum Wasser. Ich zog meine Schuhe aus und grub die Füße in den sonnenwarmen Sand. Das klare Wasser umspielte meine Knöchel. Kyle legte von hinten seine Arme um mich, senkte seine Lippen an mein Ohr und flüsterte:

„Ich lass dich nie wieder gehen."

The New MeWhere stories live. Discover now