14. Kapitel

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14. Kapitel - Das Ding, das meine Mum hat

Das Leben ist voller Leid, Krankheit, Schmerz – und zu kurz ist es übrigens auch ...

- Woody Allen

Eine halbe Stunde später hielt ich auf dem Parkplatz des Krankenhauses. Kyle hatte versucht mich zu überreden ihn fahren zu lassen. Ich hatte das konsequent abgelehnt. Nicht, dass ich ihm nicht mittlerweile vertrauen würde. Doch das Auto war das meines Bruders. Ich konnte es unmöglich jemand Anderen fahren lassen.

Finster starrte ich den weißen Kasten an, auf dem Zentral-Krankenhaus stand. Dieses Ding hatte meine Mutter und ich wollte sie zurück. Jetzt.

Ich kämpfte gegen den Schmerz an, der sich erneut in meiner Brust ausbreitete und drohte, mich unter der Last, die er mit sich brachte, zu erdrücken. Entschlossen zog ich den Schlüssel aus der Zündung, stieg aus und schloss den Wagen ab. Kyle folgte mir zum Eingang. An der Information erkundigte ich mich nach der Station, auf der meine Mutter lag. Mit einer verwirrenden Wegbeschreibung im Kopf wollte ich mich auf den Weg machen, als ich merkte, dass Kyle stehen geblieben war. Ich lief zu ihm zurück und sah bittend zu ihm auf.

„Bist du sicher?", fragte er.

Ich nickte. Schon während der Fahrt, hatte er mich immer wieder gefragt, ob er wirklich mit reinkommen solle. Ich hatte gesagt, dass er das natürlich nicht musste, wenn er nicht wollte, aber er meinte nur, er wolle nicht unsere Privatsphäre stören. Ein guter Punkt, doch ich wollte auf keinen Fall alleine auf die Station gehen.

„Okay", stimmte er schließlich meiner Bitte zu.

Kyle griff nach meiner Hand und verschränkte seine Finger mit meinen. Dankbar lächelte ich ihn kurz gekünstelt an. Er wusste, dass mein Lächeln nicht echt war, aber auch wie es gemeint war. Dessen war ich mir sicher.

Irgendwie fanden wir tatsächlich den Weg zur Station obwohl die Beschreibung meines Erachtens nach vollkommen falsch gewesen war und die Schilder nicht so einfach zu lesen waren, wie man es meinen sollte. Als wir endlich durch die schweren Brandschutztüren auf den langen Gang traten, erkundigte ich mich bei einer der Krankenschwestern nach meiner Mum.

„Es geht ihr den Umständen entsprechend. Der Arzt hat ihr eine Infusion verordnet, um den Flüssigkeitshaushalt zu halten, da sie sich weigert zu essen und zu trinken. Außerdem hat er ihr ein Beruhigungsmittel verabreicht. Sie war sehr aufgewühlt und wollte sich einfach nicht beruhigen", informierte uns eine kleine, rundliche Frau.

Sie war vielleicht 1,65 Meter groß, hatte rot gefärbte, kurze Haare und trug eine Brille, über deren Rand sie sah, wenn sie mit einem sprach. Sie blätterte durch die Akte meiner Mum, als suchte sie etwas. Da ich neben ihr stand, konnte ich einen Blick hineinwerfen. Ich hatte im Rahmen eines Praktikums im Pflegebereich des Krankenhauses gearbeitet, weshalb ich keine Schwierigkeiten hatte, die Anordnungen zu lesen und zu verstehen. Eine machte mich stutzig: täglich, abends 100 mg Amitriptylin. Das war ein Antidepressivum. Ging es meiner Mutter wirklich so schlecht?

„Ihr Vater ist noch bei ihr. Er wollte ihr keine Sekunde von der Seite weichen. Nicht einmal, als er die Unterlagen ausfüllen musste. Vielleicht können Sie ihn überreden nach Hause zu fahren?", fragte sie mich hoffnungsvoll.

Ich wusste, dass sie nicht nur aus Sorge fragte, sondern auch, weil Angehörige meist schwieriger waren als die Patienten selbst. Natürlich verstand man, dass sie sich sorgten, doch es half leider nicht. Es behinderte, da sie meist glaubten, besser als das geschulte Personal zu wissen, was ihre Liebsten brauchten.

Ich nickte nur und ließ mich dann zum Zimmer meiner Mum führen. Kyle setzte sich in den Aufenthaltsraum, um dort auf mich zu warten. Nur ungern ließ ich seine Hand los, als er mich alleine ließ. Sofort stieg eine eisige Kälte in mir auf, welche einen Schauer in mir auslöste.

Die Schwester deutete auf das Zimmer, in dem meine Mutter lag und ging dann weiter ihrer Arbeit nach. Ich ging sofort hinein, damit ich gar nicht erst auf die Idee kam, es mir anders zu überlegen.

Meine Mum sah noch immer blass aus. Aber wenigstens schlief sie. Vermutlich wirkte das Beruhigungsmittel noch nach. In ihrer rechten Armbeuge steckte ein peripherer Venenkatheter, an den eine Infusion gehängt war. Um den linken Arm war eine Manschette gelegt. Am Zeigefinger der linken Hand war ein Pulsoximeter befestigt. Neben dem Bett stand ein Monitor, der Blutdruck, Puls und Sauerstoffsättigung überwachte. Düster sah ich mir die schlechten Werte an. Lange würde das nicht gut gehen. Besorgt griff ich nach der kalten Hand meiner Mutter. Mein Vater saß in einem Stuhl neben dem Bett. Er war eingenickt. Ein mattes Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Es war so rührend, wie er sich um sie kümmerte, doch wenn ich nicht aufpasste, würde er ganz schnell in einem Bett neben ihr landen. Etwas, das ich auf keinen Fall zulassen konnte. Ich ging zu ihm und berührte ihn an der Schulter. Sofort schreckte er auf.

„Eleonora?", rief er den Namen seiner Frau aus.

„Nein, Dad. Ich bin's."   

Ein wenig enttäuscht sah er mich an. Ich hätte mir auch gewünscht, dass meine Mutter ihn weckte und nicht ich. Jetzt, da er wach war, sah ich, dass er noch erschöpfter aussah als am Morgen.

„Dad, du musst mit nach Hause kommen", sagte ich leise.

Vehement schüttelte er den Kopf.

„Nein", sagte er entschieden.

„Doch. Oder willst du vielleicht auch in so einem Bett landen? Außerdem hast du es mir versprochen."

„Es ist noch nicht Abend."

„Nein. Aber bis dahin hältst du nicht mehr durch. Du musst schlafen. Hier ist sie in guten Händen."

Zweifelnd sah er mich an.

„Komm schon. Vertrau mir. Ich kenne einige vom Pflegepersonal. Das sind wirklich fähige Leute", versuchte ich ihn zu beruhigen.

„Aber...", setzte er an.

Ich schnitt ihm das Wort mit einem entschiedenen „Nichts aber", ab, half ihm aus dem Stuhl und führte ihn zur Tür.

Er sah noch ein letztes Mal zu meiner Mum, ehe er mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf den Raum verließ. Ich ging noch mal kurz zu meiner Mutter, küsste sie auf die Wange und flüsterte an ihrem Ohr:

„Ich liebe dich."

Vor dem Zimmer fragte ich meinen Vater, ob er noch fahren könne oder ob ich ihn lieber fahren sollte. Er schlug mein Angebot aus. Er wollte lieber selbst fahren. Vermutlich um ein wenig für sich zu sein. Denn er hatte dieselbe Angewohnheit wie ich, wenn es ihm schlecht ging: Er schottete sich ab und vergrub sich in seinen Sorgen.

„Hat jemand wegen Leo angerufen?", fragte er hoffnungsvoll.

Ich schüttelte den Kopf.

„Nein. Ich hab die Rufumleitung eingeschaltet. Wenn doch jemand anruft, bekomm ich den Anruf auf mein Handy."

Dad sah mich einen Moment lang an. Dann drückte er mich fest an sich und flüsterte:

„Du bist wundervoll, meine kleine Prinzessin."

The New MeWhere stories live. Discover now