2. Kapitel

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2. Kapitel - Neue Schule, neue Menschen

Es gibt Menschen, die nicht leben, sondern gelebt werden, weil sie erst lernen müssen, was leben heißt. Einst habe auch ich zu ihnen gehört. Ich war gelebt worden und hatte dies mit schwerem, bitterem, viele Jahre langem Weh bezahlen müssen. Dann hatte ich mich von denen, die mich lebten, freigemacht. Eine böse, mühe- und enttäuschungsvolle Lehr- und Gesellenzeit war gefolgt. Und heute nun sah ich mich endlich, endlich vor die Notwendigkeit des Beweises gestellt, nicht mehr Knecht, sondern Herr meiner selbst zu sein.

- Karl May

Zwei geschlagene Stunden später packte ich vier volle Einkaufstüten in den Kofferraum von Leos Wagen. Seufzend schloss ich die Heckklappe. Ich durfte gar nicht darüber nachdenken, wie viel das alles gekostet hatte. Mir war übel geworden, als ich die Endsumme auf der Anzeige der Kasse gesehen hatte, doch mein Bruder hatte alles mit den Worten „Ich verdiene so gut, aber habe keine Zeit es auszugeben. Du wirst jetzt einfach meine Investition des Sommers", bezahlt.

Ich hatte nur beschämt zu Boden geschaut. Es war mir unangenehm, wenn mein Bruder so viel Geld für mich ausgab. Im Grunde wollte ich überhaupt nicht, dass er Geld für mich ausgab. Ich freute mich, dass er Zuhause war, was meiner Meinung nach viel zu selten vorkam. Mein Bruder gehörte zu mir. Er fehlte mir jedes Mal, sobald er das Haus verließ. Wenn er dann zu einem Einsatz musste, stand ich Todesängste aus. Tagsüber dachte ich darüber nach, ob er überhaupt wieder nach Hause kommen würde und nachts hatte ich die schlimmsten Albträume davon, dass er es nicht tat. Es zerriss mich innerlich, doch es half nichts. Ich konnte es nicht ändern. Weder unsere Familie, noch ihre Traditionen.

„Du hättest mich nie dazu überreden dürfen", murmelte ich, als ich mich in den Beifahrersitz fallen ließ und mich wegen meines schlechten Gewissens extra tief nach unten rutschen ließ.

„Du weißt einfach nicht, was gut für dich ist, Lil. Sag einfach: Du bist der Beste und ich bin glücklich."

Ich grinste. „Du bist wirklich der Beste. Aber nicht deshalb", gab ich zurück und lehnte mich zu ihm rüber, um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben.

Zufrieden und mit einem selbstgerechten Grinsen auf den Lippen, fuhr Leo uns nach Hause. Dieses Mal waren die Straßen um einiges leerer. Dort angekommen, wollte ich unsere oder viel mehr meine Einkäufe ins Haus und schnell an meinen Eltern vorbei in mein Zimmer bringen. Sie mussten nicht früher als nötig wissen, was Leo getan hatte. Fand ich. Er sah das offenbar anders.

„Wo wart ihr solange?", fragte Mum sofort, kaum dass wir die Küche betreten hatten.

Sie war die Neugier in Person, wenn es darum ging, wie mein Bruder und ich unsere Zeit verbrachten. Eine Angewohnheit, die sie sich in letzter Zeit zugelegt hatte und die sie des Öfteren zeigte. Meist jedoch auf eine liebenswerte Art und Weise.

„Einkaufen. Ich hab Lilly ein paar Klamotten gesponsort", musste Leo gleich herausposaunen.

Na toll! Ich sah ihn böse an. Dass er auch immer gleich petzen musste. Der Kerl konnte einfach nie die Klappe halten. Zumindest nicht bei solchen Dingen. Wenn es aber wirklich wichtig war, wusste ich, dass ich mich auf ihn verlassen konnte. Jahrelange Erfahrung hatte mich das gelehrt.

„Wirklich? Wenn ich mir dir einkaufen will, sträubst du dich doch immer", bemerkte meine Mum.

Ich verdrehte die Augen. Jetzt würde sie mir ewig Vorhaltungen machen, dass ich mit ihm einkaufen ging, aber nicht mit ihr.

„Leo hat nicht locker gelassen. Da war ich machtlos. Und... so ungern ich es zugebe, er berät mich da besser. Auch wenn ich selbst nicht allzu überzeugt bin", gestand ich, lehnte mich dabei mit den Unterarmen auf die Kochinsel und klaute mir ein Stück von der Karotte, die sie gerade kleinschnitt.

The New MeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt